Weiße Schmetterlinge und die Schlüsselparabel.
Der im 19. Jahrhundert beginnende Konflikt der Kolonialmächte Russland und Großbritannien um das heutige Afghanistan wurde ,The Great Game‘ genannt. Das englische ,game‘ heißt nicht nur Beute, sondern auch Spiel. Es ist der Spielball, um den sich die Welt dreht. Im Deutschen leitet sich das Wort Ball vom Balg her, dem erlegten Tier.
Eine tote Ziege ist auch die Beute im Nationalsport der Afghanen und ihrer Nachbarn, dem Buskaschi. Buz-kaschi bedeutet in einer der Hauptsprachen Afghanistans, dem ostiranischen Darsi, ,Ziege-Wegnahme‘. Bei dem dem Polo ähnlichen Kampfwettbewerb jagen bis zu 20 geschickte Reiter mit Regelfreiheit bei sämtlichen Finten und Kniffen einander diese Beute ab. In John Frankenheimers Film „The Horsemen“ (1971) beherrscht Omar Sharif bzw. sein Double achteinhalb Minuten lang dieses packende Männertreiben, bei dem Frauen auch als Zuseherinnen nicht zugelassen sind. – Erst nach diesem Eindruck wird verständlich, was der Deutsch-Afghane Massum Faryar mit „Buskaschi“ gemeint hat – dem Titel seines Familienromans, Untertitel: „Der Teppich meiner Mutter“.
Dieser Teppich, einst Brautgeschenk seines Vaters Scharif, zeigt eine Buskaschi-Szene. Der Erzähler, Schaer, ist aus dem Exil angereist, um seine Mutter zu Lücken aus seiner Geschichte zu befragen. Doch die alte Frau verwechselt schon Namen, Gesichter und Daten. Schaer, dem der Vater nach gemeinsamen Besuchen des Männer-Hamams seine Lebensgeschichte erzählt hat, hat sich stets auch für die des ganzen Landes interessiert, und so erzählt uns Massum Faryar mit Saers Familiengeschichte auch die Afghanistans im 20. Jahrhundert. Damit hat er eine seltene Gelegenheit zum Kennenlernen eines Landes geschaffen, das in den Nachrichten als so hoffnungslos gezeigt wird, dass seit Jahrzehnten nichts als Flüchtlinge daraus hervordringen. Das rege Interesse der Fernsehstationen bei der Ankündigung von Faryars Afghanistan-Saga spricht für sich: Gern hätte man bessere Vorstellungen davon, was dieses Land ausmacht.
Freilich gab es in letzter Zeit immer wieder künstlerische Auseinandersetzungen mit den Zuständen in Afghanistan: Ich denke an die Romane, allen voran „Drachenläufer“, des nunmehrigen Amerikaners Khalef Hosseini; den eindrucksvollen Spielfilm „Reise nach Kandahar“, worin der iranische Regisseur Mohsen Makmalbaf ein Geschwader Beinprothesen vom Himmel schweben lässt;
und die Performance „Reel-Unreel“, bei der Francis Alÿs auf der Documenta (13) zeigt, wie sich afghanische Kinder die Trümmerlandschaft ihrer Hauptstadt beim Reiferltreiben mit von den Taliban konfiszierten Filmrollen aneignen.
Heuer war im Islam-Geschoß des Pergamon-Museums in Berlin die Ausstellung des aus Kandahar stammenden Bielefelders Aatifi zu sehen: großflächige Hybride zwischen Kalligrafie (die er in Kabul studiert hat) und Malerei (in Dresden studiert).
Mit Massum Faryar hat ein weiterer Deutsch-Afghane ein Fenster in seine Kultur geöffnet: 1982 zum Studium nach München gekommen, machte Faryar 2008 mit der Erzählung „Der Rucksack“ auf sich aufmerksam. Dieser Roman in nuce gewann den Wettbewerb für die beste Migrantengeschichte des Mannheimer Andiamo-Verlags. Nach Schreibaufenthalten in mehreren deutschen Städten ist nun endlich Faryars erster Roman erschienen. Die emigrantische Perspektive und das Motiv der Schmetterlinge behielt er bei.
Massum Faryar verquickt die Ereignisse in Afghanistan in eine Familiengeschichte, wobei der Ich-Erzähler Saer die Zeitgeschichte selbst erlebt, während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sein Vater ihm nahebringt, der seine philosophischen Botschaften mit den Erzählungen weitergibt. Auch in der kolonialen Vergangenheit hat ein Ahne mitgemischt, in einem Aufstand gegen die Engländer.
Je nachdem, wie es um die Geschicke des Landes bestellt ist, flattern bei den verschiedenen Zusammenkünften im Garten des Familiensitzes mehr oder weniger weiße Schmetterlinge. Im Nachwort betont Faryar, dass es eine fiktive, aus verschiedenen Berichten gewonnene Biografie sei: „Die Literatur ist nicht der Wahrheit verpflichtet, sondern allein dem Anspruch, wahrhaftig zu sein.“
Im Vergleich mit dem Rumänen Varujan Vosganian, der sich derselben Methode für „Das Buch des Flüsterns“ über die Geschichte der Armenier im 20. Jahrhundert befleißigt hat, wirkt Massum Faryars Lösung braver, um nicht zu sagen: deutscher, d.h. weniger leidenschaftlich durchgestaltet und lange nicht so exotisch, wie man sich von der farbenprächtigen Hindukusch-Etappe des einstigen Hippie-Trail erwarten würde. Es geht zwar viel um Musik und unterschiedliche Kulturen, doch ohne dass dabei die Sinne geweckt würden.
Manchmal stört die Zurückhaltung das Leseverständnis. Beispielsweise erwähnt der Autor die landesübliche Knabenliebe nicht, die in Hosseinis „Drachenläufer“ handlungstragend ist. Ohne etwas über sogenannte Tanzknaben zu wissen, bleibt für Leser unverständlich, warum der Bauarbeiter Ali, als sich an der Quelle wäscht, in seiner klatschnassen Pluderhose einen wohlhabenden Schuhmacher dazu veranlasst, ihn ins Haus aufzunehmen, um ihm das Trommeln beizubringen und ihn später zum Alleinerben einsetzt.
Leider gibt der Autor keinen Überblick über die verschiedenen der Ethnien des Landes. Die Völkerschaften, die im heutigen Staatengebilde Afghanistan leben, ihre unterschiedlichen Kulturen sowie die Einflüsse, die Nachbarnationen, Bruderreligionen und Erobererintentionen darin bewirkt haben, sind vielfältig und schwer darstellbar.
Faryar und seine Buch-Familie stammen aus Herat im Westen des Landes und ziehen später ins 1000 km östlich gelegene Kabul.
Gemäß Wikipedia ist Herat, die drittgrößte Stadt, mehrheitlich tadschikisch (Farsi), während die Bevölkerung der Hauptstadt Kabul sich folgendermaßen zusammensetzt: 45 % Tadschiken und 25 % Hazara, 25 % Paschtunen. Daneben Usbeken, Turkmenen, Paschai et al.
Es ist zwar viel vom Musizieren die Rede, doch wird nicht klar, warum sich die Cousins in der (indisch beeinflussten) Kabuler Musikszene schminken, während im (iranisch orientierten) Herat ein jüdisches Nachbarmädchen durch einen muslimischen Sänger becirct werden kann. Das absolute Musik- und Tanzverbot durch die Taliban erwähnt Faryar gar nicht.
Von all diesen miteinander in Konflikten liegenden Nationen, Stämmen und Glaubensgruppen nennt Faryar lediglich die verhassten Paschtunen beim Namen. Als Ausnahme bezeichnet er den paschtunischen Lehrer, der seinen Schülern die Zusammenhänge der Geschichte unvergesslich dramatisch „wie Bukaschi-Kämpfe der Macht“ ausmalt. Alle anderen Angehörigen dieser Volksgruppe bleiben den Protagonisten in Faryars Roman fremd, werden als Eindringlinge, Hinterwäldler oder Aufsteiger wahrgenommen. Kein Mitglied der Erzähler-Familie wird mit ihnen warm, wenngleich Saer es mehrfach versucht. Daraus lässt sich schließen, dass wir alles aus tadschikischer Warte erzählt bekommen – wenngleich durch den Autor undeklariert. Oder meint er mit „Paschtunen“ Stammeskrieger, im Unterschied zu den Städtern.
Dass sie in der Schule Paschtu lernen müssen, halten die Herater für unter ihrer Würde. Mit Staunen nimmt der geschichtsinteressierte Saer zur Kenntnis, dass die Paschtunen jene Arier sind, die seine Heimatstadt am Schnittpunkt wichtiger Fernhandelsrouten, das Florenz Asiens, einst gegründet haben. Die verschwiegene Geschichte des sehr gemischten Staatengebildes thematisiert auch Khaled Hosseinis Ich-Erzähler Ali in „Drachenläufer“. Er wächst zur gleichen Zeit als paschtunischer Herrensohn in Kabul auf. Alis Milchbruder Hassan, Sohn der Dienerin, entstammt den als minder betrachteten Hazara. Ali wundert sich ebenfalls, als er – nicht im Unterricht – erfährt, dass es einmal umgekehrt gewesen sein soll, nämlich die Hazara Herren über die Paschtunen.
Zur besseren Lesbarkeit des Romans bringt Faryar – leider – nichts von diesen stammesgeschichtlichen Verwicklungen und Umschlägen in seinen afghanischen Teppich ein. Er folgt weitgehend kunstlos der Chronologie der Ereignisse. Hat es der Erzähler nicht selbst erlebt, lässt er Verwandte oder Bekannte erzählen.
Dankbar muss man ihm für die gerafften Erklärungen über die jeweiligen Interessen am geopolitischen Brennpunkt Afghanistan sein, wer wann die Nutznießer am Unglück des Landes, der ,großen Beute' waren. In einem Gleichnis erklärt der geistliche – und geistige – Beistand beider Erzählergenerationen, der weise Maulana Asís: „Einen Gewinner in diesem Buskaschi-Kampf wird es nicht geben, sondern nur einen Verlierer. Und dieser wird kein anderer sein als das afghanische Volk.“ – Die Figur dieses Imams ist älter als der Vater und überlebt die Mutter, meist im Exil, als Repräsentant des echten, friedlichen Islam – den man in Afghanistan behandelt wie im Buskaschi die Ziege.
Saers Vorbild ist bis zu dessen Tod und darüber hinaus sein Vater, väterliches Vermächtnis der Rat, den eigenen Träumen Glauben zu schenken. Als armer Dorfbub Scharif hatte dieser davon geträumt, den nationalen Buskaschi-Bewerb zu gewinnen, bis verschiedene Schicksalsschläge ihn lang von der Verwirklichung abhielten. Erst zum erfolgreichen Geschäftsmann aufgestiegen und fünffacher Familienvater, tritt er an und gewinnt. Ausschlaggebend dabei ist, dass der Vater dem König bei der Siegerehrung eine Petition übergeben kann. Aus Hochachtung für seinen besten Gegner, der beim Duell tödlich verunfallt, schwört er sich, dessen Familie zu unterstützen.
Saer, damals noch Schulkind, fragt den Vater in der Krise der Monarchie nach Rat und bekommt als Antwort, die Krone eines Herrschers sei „wie eine tote Ziege in der Buskaschi-Arena“.
In Erfüllung seines Gelöbnisses nimmt der Vater später Bruder und Sohn des damals im Spiel gefallenen Paschtunen auf dem großen Familiengrundstück auf. Ohne es zu wissen, unterstützt er damit die falsche Seite: Nach der kommunistischen Machtübernahme steigen Saers Schulkamerad Sultan und sein Onkel zu hochrangigen Folterknechten auf und verschonen die Familie ihres Gönners nicht.
Nach einigen wenig stimmigen Längen im Buch überzeugt dann der Abschluss des Ganzen. Vor allem im letzten Absatz des fast 700-seitigen Romans führt Faryar mehrere Stränge und Spannungen zusammen: Es findet der im deutschen Exil ohne eigene Familie alt gewordene Ich-Erzähler doch noch mit dem Jugendschwarm, seiner nunmehr verwitweten jüdischen Schwägerin, zusammen. Im gleichen Zug schließt Faryar einen Kreis mit einer Art west-östlichem Diwan: Das Gleichnis von der Ringparabel, das Lessing mit der Figur des orientalischen Juden Nathan in die deutsche Philosophie einführt, erfindet Faryar zur Schlüsselparabel um. Die Ringparabel – aus dem „Decamerone“, wobei sie östlicheren Ursprungs sein dürfte – lässt einen Vater drei Söhne nach einem wertvollen Ring suchen, der die Eigenschaft verleiht, seinen Träger beliebt zu machen. Weil der Vater neben dem Original seinen Erben zwei Kopien vermacht, weiß keiner, wer den echten Ring hat und alle drei bemühen sich, als gute Menschen die Echtheit ihres jeweiligen Ringes zu beweisen. Lessing illustriert damit die Gleichwertigkeit der Weltreligionen.
Bei Faryar hat der Vater des Erzählers für jedes Kind einen goldenen Paradies-Schlüssel herstellen lassen. Nachdem er während des Putsches von 1978 plötzlich stirbt, finden die Erben nichts.
Letztlich tauchen die Schlüssel erst auf, nachdem die Geschichte zu Ende erzählt ist – just in dem verlorenen und gemäß eines Traumes auch in der Realität wieder erworbenen Lustgarten des einstigen Familienanwesens. Es findet sie Saer, das heißt: Dichter, der nun endlich sicher sein kann, das geworden zu sein, was sein Vater und Namengeber für ihn wollte.
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben