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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Paris, Moskau, Nowosibirsk

In „Der Alkohol und die Wehmut“ spielt Mathias Énard geschickt mit literarischen Klischees
Hamburg

Für seinen großen Roman „Kompass“ erhielt Mathias Énard 2015 den renommierten Prix Goncourt. Bereits fünf Jahre zuvor erschien „Der Alkohol und die Wehmut“, ursprünglich als Hörspiel. Im Berliner Matthes & Seitz Verlag ist das schmale Bändchen im vergangenen Jahr erstmals auf Deutsch aufgelegt worden, in einer schönen Übersetzung von Claudia Hamm. Der Text, wohl eher eine Erzählung als der vom Verlag angekündigte Roman, ist ein Mosaik aus Erinnerungen, Träumen und Phantasien, die sich erst im Laufe der Lektüre zu einer Geschichte verweben, deren Handlung – häufig mehr angedeutet als ausgeführt – sich am Ende eher erahnen als mit Gewissheit rekapitulieren lässt. Doch liegt genau darin der Reiz dieses Buches. Man sollte daher nicht den Fehler begehen, es vorzeitig aus der Hand zu legen, sondern der anfänglichen Verwirrung widerstehen und auf den Sog warten, den Énards Prosa binnen kurzer Zeit zu entfalten vermag.

Eine dreitägige Zugfahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau ins sibirische Nowosibirsk liefert den Rahmen der Erzählung. Dem jungen Schriftsteller Mathias, dessen Problem es ist, dass er schreibt um zu trinken, und nicht trinkt um zu schreiben – wie es seine Freundin Jeanne einmal treffend auf den Punkt bringt –, gehen auf dieser Reise die unterschiedlichsten Bilder durch den Kopf. Gewalttätige Rückblenden in die russische Geschichte, hervorgerufen durch die am Fenster vorbeiziehenden Landschaften, wechseln sich ab mit Erinnerungen an das Leben mit Jeanne während der Pariser Studienjahre und eine ebenso waghalsige wie aufreibende Ménage à Trois mit dem gemeinsamen Freund Wladimir – Wolodja – in Moskau, wo Jeanne für ein Jahr studierte. Tatsächlich Erlebtes und überreizte Phantasie sind bisweilen schwer voneinander zu trennen, zumal das Erzählte, sei es den Moment oder Vergangenes betreffend, stets wie durch eine Nebelwand aus Alkohol und Drogenrausch verschleiert wirkt.

Erst spät wird klar, dass die Reise im eigentlichen Sinn als Schlusspunkt angelegt ist. In Nowosibirsk will Mathias seinem Leben ein Ende bereiten. Ein Schritt, den Wolodja bereits gegangen ist, aus unerfüllter Liebe zu Jeanne und dem Gefühl des Verrats an seinem Freund. Doch der Versuch scheitert. Im Krankenhaus erreicht Mathias ein Brief von Jeanne, die ihn beschwört, weiterzuleben. Ein Gedicht von Ossip Mandelstamm zitierend, der selbst in einem sibirischen Lager den Tod fand, erinnert sie Mathias daran, dass man erst nach dem Tod wirklich alleine sei, nicht aber, solange man noch lebe.

In „Der Alkohol und die Wehmut“ hat Énard geschickt zwei beliebte literarische Motive des 19. Jahrhunderts aufgegriffen, miteinander verknüpft und in unsere Zeit übertragen: den jugendlichen Ennui und die vermeintliche Schwere der russischen Seele. Doch so offenkundig Melancholie und rauschhafte Todessehnsucht die Stimmung der Erzählung prägen, so subtil hat Énard seine humoristischen Brechungen in den Text eingeflochten. Zum einen in der Figur der pragmatischen und weltzugewandten Jeanne, die, anders als ihre narzisstischen männlichen Gegenüber, sehr wohl zwischen Träumerei und Wirklichkeit zu unterscheiden vermag, und Mathias vor dessen Abreise nach Nowosibirsk den klugen Rat gibt, er solle doch lieber hier bleiben und einen Tee mit ihr trinken. Zum anderen durch das dem Text vorangestellte Motto von Tschechow, demnach es die vielzitierte russische Seele gar nicht gebe, sondern das einzig Greifbare daran der Alkohol, die Wehmut und eine Leidenschaft für Pferderennen seien.

So tragisch also die Umstände der Geschichte, die Mathias Énard hier erzählt, auch sein mögen, sollte man doch nicht übersehen, dass dies mit einem Augenzwinkern geschieht.  

Mathias Énard
Der Alkohol und die Wehmut
Übersetzung: Claudia Hamm
Matthes & Seitz
2016 · 16,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-349-0

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