Das Erbe der dritten Generation
Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nach den Übeln, den "Greueln": obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.
Vom "Glück der Konzentrationslager" schreibt Imre Kertész in seinem Jahrhundertroman "Roman eines Schicksallosen". Was zunächst wie ein Paradox klingen mag, lässt sich auf zwei Arten erklären: hineingeworfen in einen Unort wie Auschwitz, werden nach und nach schon Momente, in denen man nicht gequält und geschreckt wird, zu Glück. Glück wird dann als die Abwesenheit von Leid und Schmerz erfahren. Die zweite Erklärung ist etwas komplexer: Es ist kein unbekanntes Phänomen, dass in psychischen Ausnahmesituationen die menschliche Seele, um traumatische Erlebnisse überhaupt ertragen zu können, beginnt zu kompensieren, zu verharmlosen, oder manchmal sogar zu ästhetisieren. So kennt man z.B. das Phänomen, dass Opfer sich in ihre Entführer verlieben, (Stockholm-Syndrom), oder ihre Peiniger in Schutz nehmen und verklären. Das alles nur, um nicht zu zerbrechen, an dem, was einfach nicht auszuhalten und schon gar nicht in Worte zu fassen ist.
Keiner leichten Aufgabe hat sich daher der im polnischen Opole geborene Matthias Nawrat in seinem Roman "Die vielen Tode unseres Opa Jurek" gestellt, in dem er sich u.a. mit der Ausschwitz-Vergangenheit seines Großvaters literarisch auseinandersetzt. Denn wie soll man als Autor mit solch einem Erbe angemessen umgehen? Wie kann man Erlebnissen, die nicht die eigenen und nur als erzählte Geschichten zu einem gekommen sind, gerecht werden, wenn man ahnt, dass Worte das erlittene Grauen sowieso nicht nachvollziehbar ausdrücken können, dass man es hier in jedem Sinne des Wortes mit unbeschreiblichen Leiden zu tun hat?
So hat z.B. Martin Kordic in seinem im letzten Jahr erschienen Roman "Wie ich mir das Glück vorstelle" dieses Problem für sich gelöst, indem er seinen Romanhelden Viktor aus der Kinderperspektive über die Gräuel des Jugoslawienkriegs berichten lässt. Durch den naiven Kinderblick ist es ihm möglich gewesen staunend, unvoreingenommen und vor allem nicht wertend das Allerschrecklichste zu erzählen, mit dem Effekt, dass es den Leser umso tiefer ins Mark trifft.
Eine ähnliche Erzählstrategie verfolgt Matthias Nawrat, wenn er in "Die vielen Tode unseres Opa Jurek" die beiden Enkel des besagten Opa Jurek dessen Anekdoten zum Besten geben lässt – einen Wir-Chor, unvoreingenommen, unbelastet und vermeintlich neutral. Nur leider will in diesem Fall die Dopplung von Opa Jureks Geschichten als Echo im Sprechchor der Enkel nicht so wirklich aufgehen. Viel eher fragt man sich sogar nach dem Sinn dieser Dopplung. Denn schnell wird klar, dass Opa Jurek ein rechter Schelm ist und schelmenhaft seine imposante Lebensgeschichte zu erzählen vermag.
Es ist die Geschichte eines Warschauer Polen, der zur Zeit der Besetzung unter den Deutschen in einem Arbeitslager in Oświęcim (Auschwitz) landet, von dort sowohl spektakulär flieht, als auch zugleich entlassen wird, dann tatkräftig ein Lebensmittelgeschäft im zerstörten Opole eröffnet und dort für Wochen nichts anderes zu tun hat als das einzige, noch leer stehende Regal mal hierhin, mal dorthin zu schieben. Später dann trifft er bei einer Tanzveranstaltung in einem ehemaligen Schwimmbad auf Oma Zofia, heiratet, gründet eine Familie und wird zu einem viel geachteten Mann, dem erfolgreichsten Delikatessenverkäufer von Opole. Nach vielen bestandenen Abenteuern, während derer er immer wieder dem Tod von der Schippe springt, stirbt er friedlich im Kreise seiner Familie. Dass Opa Jurek in seinen Erzählungen beschönigt und dass es eben jener Witz ist, der ihn dies alles hat ertragen lassen, wäre ohnedies deutlich geworden – man hätte einen sympathischen Münchhausenerzähler gehabt, der augenzwinkernd sagt, anders kann ich euch das leider nicht erzählen. Nun aber wird Opa Jureks Beerdigung zum Erzählanlass für die beiden namenlosen Enkel, die Familiengeschichte in Form von lose aneinandergereihten Anekdoten zu erinnern. Das ist insofern sinnig, als sie dabei drei Generationen überblicken können, sorgt aber leider am Beginn des Romans für einiges Befremden, wenn diese beiden Grünschnäbel Opa Jureks KZ-Aufenthalt umschreiben mit
Und dann begann ein Alltag, wie in wohl jeder kennt, der für eine Weile für eine Firma im Ausland tätig gewesen ist.
Denn an diesen Stellen weiß man nicht so recht, wie das gemeint sein will. Das ist Opa Jureks Ironie, zweifellos, aber wieso wird sie von den beiden so unreflektiert übernommen. Steht ihnen als Unbeteiligten diese Ironie überhaupt zu? Ist die dritte Generation wirklich dermaßen naiv und unwissend und kann sich gar nicht mehr vorstellen und sich hineinfühlen in das, was ihre Großeltern einst durchlitten haben?
Wie Opa Jurek ein gewitzter Mann, so ist auch Matthias Nawrat ein gewitzter Erzähler. Schon in seiner Kurzgeschichte "Arkasdiusz Protasiuk" (über den Piloten, der 2010 die abgestürzte polnische Präsidentenmaschine flog), mit der er 2011 den MDR-Literaturpreis gewann, bewies er seinen Sinn für einen slapstickhaften, verknappt lakonischen, slawischen Humor. Etwas unpassend aber wirkt es nun, wenn er mit ebenjenem Humor die beiden Enkel vom zweiten Weltkrieg berichten lässt. Hitler wird dann zum
schon damals berühmte(n) Politiker, der in seiner Uniform und mit dem gestauchten Schnurrbart auf den Fotos ein bisschen so aussieht wie Charlie Chaplin in dem späteren Film "Der große Diktator".
Die Pogrome an den Juden werden umschrieben mit:
... denn in dieser Zeit sind die Deutschen noch kultiviert gewesen, und nur gelegentlich gab es Probleme, weil der eine oder andere Händler in einem schwarzen Anzug und mit einem Bart seinen Laden noch weiterführen wollte.
Dann wiederum gibt es Seiten in diesem Roman, da gelingt es Nawrat, den Aufenthalt des Großvaters in Oświęcim ernsthaft zu schildern, und es sind dies die definitiv gelungensten Passagen. Todtraurig freilich, aber hier dann auch berührend.
An allen anderen Stellen aber sitzt der Humor, und wir haben es mit einem illustren Familienroman zu tun. Köstlich und urkomisch ist es z.B., wenn Opa Jurek vom Möbelspiel erzählt: Dass man damals während Anfangszeit in Opole, jeden Abend bei der Heimkehr befürchten musste, dass die schönsten Möbel fortgetragen und ein paar Tage später in den benachbarten Wohnungen wiederzufinden sein würden, von wo man sie dann auch prompt zusammen mit dem, was einem sonst noch gefiel wieder mit nach Hause nehmen würde. Und schön sind auch immer wieder Sätze wie dieser:
Auf der Bühne sang ein junger Sänger, dass er seine Hania vermisse und die Paare tanzten dazu so eng, als hätten sie durch diese besungene Trennung Angst bekommen.
Angst wiederum braucht der Leser dieses Romans definitiv nicht zu bekommen, denn "Die vielen Tode unseres Opa Jurek" ist letzten Endes ein schelmisches und hoffnungsvolles Buch über den Sieg der Liebe und des Humors über alle Grauen hinweg.
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