Spaziergänge zwischen Himmel und Hölle
Gesetzt den Fall, einer, dem alles gleichgültig ist, der sich selbst zum einzigen Zentrum seiner Welt gemacht hat, erlebt Abenteuer, wie wahrscheinlich ist es dann, dass ein Leser diese Abenteuer nachvollziehen kann?
Ich jedenfalls habe eine gewisse Zeit benötigt, mindestens 300 Seiten, um mich an Joel Spazierer zu gewöhnen, der ja erst später diesen Namen bekommt. Denn einfühlen oder identifizieren konnte ich mich nicht mit einem Wesen, das weder gut noch böse war, der nicht nur von sich behauptet, er habe niemals den Ehrgeiz gehabt, ein guter Mensch zu sein, sondern keinerlei seelische Entwicklung durchmacht.
Joel Spazierer, oder András Fülöp, wie er zu Beginn der Geschichte heißt, ist ein Meister im Loslassen und im Vertrauen auf den Gott, an den er nicht glaubt, von dem er aber weiß, dass es ihn gibt.
Gut und Böse, Himmel und Hölle, bei ihm geht alles fließend ineinander über. Als Einzelgänger zu Bewusstsein gekommen, bleibt der Erzähler von Michael Köhlmeiers Roman, über sechshundert Seiten lang, allein unter Fremden. Es gibt nur ihn. Wie eine Fremdsprache lernt und beherrscht er die Höflichkeit, was ihm hingegen fehlt, ist die eigene Sprache, das Mitgefühl, als Grundlage für jegliche Moral.
Die Handlung dieses Romans ist „leicht nachzuerzählen, doch schwer zu begreifen“, schreibt Daniela Striegel im Falter, und zählt auch auf, was diesem Roman dann doch zum „großen Wurf“ fehlen könnte: einige Seiten zu viel und das Fehlen der „existenziellen Glaubwürdigkeit.“
Zunächst zur Nacherzählung: Ungarn 1953. András Fülöp lebt bei seinen Großeltern, als sein Großvater, ein angesehener Internist, verdächtigt wird, einen Führer der Partei zu Tode operiert zu haben. Kurz darauf wird auch die Großmutter abgeholt. Der noch nicht vierjährige Junge bleibt allein in der Wohnung zurück. Fünf Tage und vier Nächte lang, bis seine Mutter ihn durch Zufall findet.
Anders als man vermuten würde, ängstigt er sich nicht, sondern weiß sich zu helfen und lebt selbstgenügsam, nur von seinen „Tieren“ unterhalten, in der großen Wohnung, ohne jemanden zu vermissen. Das bleibt auch so. András wird älter, jedoch ohne sich zu entwickeln, oder wie er es ausdrückt; seine Seele bleibt ewig vier Jahre alt. Sie wird weder durch die Flucht von Ungarn nach Österreich beschädigt oder geläutert, noch durch eine frühe Karriere als Stricher, nicht durch den Mord an der Mutter eines Klassenkameraden, nicht durch den Gefängnisaufenthalt, der zu einem weiteren Mord führt, nicht durch die Tätigkeit als Professor und Leiter des Instituts für wissenschaftlichen Atheismus in der DDR, und ebenso wenig durch die paradiesische Zeit, die András gemeinsam mit dem G.I. Staff Sergeant Winship in den Wäldern verbringt, oder durch die Tatsache, dass er Gott unter einer Straßenlaterne begegnet und begreift, dass jeder Mensch für genau einen anderen Menschen Sorge zu tragen hat.
Es geschieht viel in diesem Buch, eine Handlung, ein Abenteuer jagt das nächste, da werden Pässe gefälscht, es gibt Gefängnisaufenthalte und kalten Entzug, Reisen nach Mexiko und Paris, Entführungen und Schachturniere in Russland, aber derjenige, dem die Abenteuer widerfahren, bleibt seltsam unberührt, er wechselt lediglich die Rollen, seine Identität bleibt unberührt.
Letztendlich ist Joel Spazierer nur die Form für eine Fülle von Ideen, der rote Faden, der die aneinander gereihten Geschichten zusammenhält.
Gleich am Anfang des Romans findet sich eine literarische Anspielung an den Simplicissimus von Grimmelshausen. Die Figur des Simplicissimus, sagt Köhlmeier in einem Interview, sei durchaus ein Vorbild für die Figur desjenigen, der unter anderem den Namen Joel Spazierer trägt.
Mit „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ hat Michael Köhlmeier, einen Schelmenroman voller Philosophie, aber ohne Moral geschrieben.
Was der Figur des gleichgültigen, und damit letztendlich unnahbaren Helden fehlt, machen Einfälle und philosophische Ideen wett. Die Form dominiert ganz klar den Inhalt, aber der Inhalt sprengt mitunter die Form.
Was bleibt ist eine kunstvolle Lüge, eine Geschichte von einem ohne Moral, aber voller Willkür.
Fixpoetry 2013
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