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Kritik

Die Liebe der Däumlinge

Hamburg

In seiner Liebeserklärung an die vernetzte Generation schließt Michel Serres eine Brücke, ohne zurückzubinden, vielmehr: um zu eröffnen und zu stärken, was im Gange sein mag. Er erinnert daran, daß die, die die Jungen lehren, von diesen auch lernen müßten, wer diese seien. Sie vorbereitend muß man bedenken, daß unsere Bildung eine andere Welt betraf, also Bildung nur Wert hat, wenn sie auch auf noch ungestellte Fragen und noch inexistente Probleme vorbereitet, uns fürs Ungeahnte rüstet. Gleichzeitig ist dies, was Serres hier bereits tut, indem er etwa von „Geopraktiken” schreibt, einem nur rückwärts gerichtet sinnvollen Begriff, wenn ehemals alles Geopraktik war: also namenlos, da in seinem Nichtsein undenkbar – die begriffsbildende Opposition zu vermerken, nachträglich, ist hier sozusagen Zukunft.

Diese Orientierung nach vorne, durchpulst von Optimismus und Neugier, gespeist von dem Wissen der Topiken und Begriffe, die aus der Vergangenheit den Vektor mitkonstituieren, ist, was das Buch betreibt. Es geht gegen die „wohlhabenden, einflußreichen und lautstarken Erzieher[n]”, die die Bildung abschaffen, die diese Ressourcen hütet und immer neu erfindet und entfaltet, ist auch – paradox – alles „Wissen [...] allen schon zugänglich”. „Es gilt die Kompetenzvermutung.” Aber sie ist losgelöst, wie des Hl. Dionysos abgetrenntes Haupt ist die Festplatte eine „objektivierte[n] Kognitionsbüchse.”

Wir werden bedient und kopflos, das Wissen ist das Ende des Wissens. Das ist die Krise, die – wüßte man noch ums Griechische – schon eine Entscheidung und Chancen verkündete. Können wir die Krise, die wir nicht lesen können, dennoch nutzen? Brauchen wir nicht „das vom Buch und der Seite implizierte Raumformat”, um alles und eben auch dieses Format „zu verlassen”..? Es bleibt die Fokussierung auf den unlesbaren „power point”, wenn wir nicht achtsam sind.

Diese Sorgsamkeit ist das Pendant der Hoffnung Serres’. Es geht um neue Narrative, eine neue Liebe – eine Liebeserklärung an die Liebe ist dieses Buch nicht zuletzt, wie übrigens auch Badious wunderbare Eloge auf die Liebe, die 2009 (dt. 2011) erschien. Serres liebt dabei die Däumlinge, die zur Leitmetapher all dessen werden. Das Konkrete, das Ausgesetzte liebt er, ihm widmet er sich. Darum ist sein Text auch nicht auf einen Nenner zu bringen, nicht einmal jene Metapher; Serres ist nicht zu zähmen. Noch in den „Vorzimmern des Todes” wäre ein Gesang... Vielleicht gerade hier, und gegen den Skandal vor allem des verursachten oder gebilligten Todes, der vermarkteten, „ausgestellten Leichen”: „Lebenszukunft” entstehe aus „Todesvergangenheit”...

Manches in diesem Buch ist diffus, gewollt, das sei eingestanden, Serres, dessen frühere Bücher Meisterwerke sind, wird, wo er programmatisch ist, selbst vom Augenzwinkern nicht gerettet, aber oft sind die Konnexe denn doch Versuche, Hoffnungen, die nicht ins Reale genötigt werden sollen, „das Algorithmische und das Prozedurale” sind das Messianische: Demgemäß ist dies ein Buch der Spannungen; und in vielen Passagen spannend. Es ist von Liebe und Sorge gezeichnet, als seien diese beiden – eines. Man sollte sich diese unio mystica, die sich meist nicht aufdrängt, sondern momentan zu entfalten scheint, nicht entgehen lassen.

Michel Serres
Erfindet euch neu!
Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation
Suhrkamp
2013 · 69 Seiten · 8,00 Euro
ISBN:
978-3-518-07117-5

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