Vom Widerstand der Unsichtbaren
“Ich nannte ihn Krawatte” ist eine Geschichte, die in Japan spielt, aber überall spielen könnte. Die Geschichte eines Verrates, eines menschlichen Versagens, die über kulturelle Grenzen hinausreicht. Milena Michiko Flašar hat einen österreichischen Vater mit tschechischen Wurzeln und eine japanische Mutter. Japanisch bezeichnet sie als „Familiensprache“.
Foto: Elke Engelhardt/Poetische Quellen in Bad Oeynhausen/26.08.2012
Die Protagonisten ihres Romans, „Ich nannte ihn Krawatte“, sind ein Hikikomori und ein Salaryman. Während Salaryman lediglich der japanische Ausdruck für einen Büroangestellten ist, handelt es bei den Hikikomoris um ein japanisches Phänomen. Junge Menschen, die sich von allen absondern, in ihr Zimmer einschließen und jahrelang dort bleiben, vollkommen ohne Kontakt zur Außenwelt. Laut Flašar gibt es schätzungsweise eine Millionen von ihnen in Japan (das Glossar im Roman spricht von 100.000 bis 320.000 Fällen bei einer hohen Dunkelziffer).
„Ich kann nicht mehr“, war der letzte Satz, den Taguchi Hiro vor Jahren ausgesprochen hat. „Dieser Satz war mein Leitspruch. Das Motto, das mich überschrieb.“
Taguchi will sich vor sich selbst bewahren und spricht vom Glück Teil einer Familie zu sein, die es ihm gewährt, sich einzuschließen. Obwohl er genau weiß, seine Eltern lassen ihn aus Scham gewähren. Dennoch, nach zwei Jahren Abgeschiedenheit, fasst Taguchi den Entschluss, sein Zimmer zu verlassen. Wie ein Freigang fühlt sich diese erste Wiederbegegnung mit der Außenwelt für ihn an und schnell erkennt er: „Es gibt Räume, die man niemals verlässt.“ Eine Parkbank wird seine Anlaufstelle für die nächsten Wochen und dort taucht auch „Krawatte“ auf, und das „Verwickelt sein mit der Welt“, beginnt erneut.
Sehr behutsam näheren sich die beiden Männer, der ältere Salaryman, der seine Arbeitslosigkeit vor seiner Frau verbirgt und Taguchi, der junge Hikikomori. Nach und nach offenbaren sie einander ihre Geschichten, weil sie eine Verwandtschaft zueinander fühlen, eine ähnliche Geschichte. „Sie handelte von dem, was er unterlassen hatte und was demnach nicht rückgängig zu machen war.“ Dabei webt Milena Michiko Flašar geschickt einen „roten Faden“, der als solcher am Freundschaftsbaum von Taguchi und seiner Kinderfreundin Yukiko im Roman auftaucht, durch die Geschichte. Ein Faden, der verbindet und verwickelt, der sich immer wieder auch auf die Unfreiheit bezieht, die einmal getroffene Entscheidungen für die Zukunft bedeuten.
Obwohl Krawatte schließlich nicht mehr im Park, am Treffpunkt erscheint, hat Taguchi am Ende des Buches einen Punkt erreicht, von dem aus er den Mut und einen Weg findet, die Oberfläche zu durchbrechen.
Ich nannte ihn Krawatte ist ein besonnenes Buch mit einer klaren Fragestellung. Die Dialoge überzeugen nicht ganz, weil Flašar ihre Protagonisten mit kaum unterscheidbaren Sprechweisen ausstattet, an einigen Stellen erzählt sie eine Geschichte zu viel von Versagen und Verrat. Flašar findet schöne eindringliche und leise Sätze für ihre Protagonisten und ihre Situationen. Gerade weil ihre Erzählhaltung ungewohnt zurückhaltend ist, fällt die Anhäufung von Ereignissen, die am Ende des Romans nahezu didaktisch zu einem Ziel führen soll, ärgerlich auf.
Dem Lesevergnügen eines breiten Publikums scheint das indes keinen Abbruch zu tun.
Bei einer Lesung sagte die Autorin, sie wünsche sich, viele Menschen würden sich selbst in der Geschichte von Taguchi und Tetsu wiederfinden. Die Tatsache, dass der Roman bereits in der fünften Auflage vorliegt, spricht dafür, dass sich ihr Wunsch bereits einige Mal erfüllt hat.
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