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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Wenn Gott das Handtuch wirft...

Hamburg

Irgendwie geht alles den Bach runter auf dem Planeten der Menschen. Dem Großen A entgleiten die Dinge, und auf seine Engel ist auch kein wirklicher Verlass mehr. Seine treusten Unterhändler wandeln lieber auf der Erde und geben sich dortigen Freuden hin, die Laufburschen bauen Mist am laufenden Band, ein neuer Auserwählter ist kaum in Sicht, alle Kandidaten erweisen sich als ziemliche Nieten.

In Ominösien, einem Land irgendwo im Osten, herrscht seit Jahren Bürgerkrieg, die Khirbos kämpfen erbittert gegen die staatliche Armee, in der die Moral langsam aber sicher abhandenkommt. Auch der zwielichtige Taugenichts Muster und sein Kumpel Dreizehn haben genug von den Kugeln und Granaten, die ihnen um die Ohren fliegen, und nachdem diverse Gedankenspiele, wie sie eine Suspendierung herbeiführen könnten, versanden, entschließen sie sich, zu desertieren. Klar, dass sie im Knast landen, wo sie monatelang verprügelt und gefoltert werden. Dabei haben sie so große Pläne. Muster ist ohnehin bloß deshalb zur Armee gegangen, weil er mit dem Tod seines Bruders nicht klarkam. Dass ausgerechnet sein Bruder als künftiger Prophet auf der Liste der Engel stand, und diese nun mit Muster Vorlieb nehmen, um ihren Job nicht zu verlieren, ahnt er nicht. Auch nicht, dass sie ihm eine abenteuerliche Geschichte andichten, damit ihr launischer Vorgesetzter keinen Verdacht schöpft. Und abgesehen davon: Ob der Prophet nun echt oder unecht ist, Beezel passt das alles gar nicht, ist der Status Quo doch sein Lebensprojekt, das in der Apokalypse gipfeln soll.

Während die da oben noch rätseln, wie sie aus dem Schlamassel da unten halbwegs ungeschoren wieder rauskommen, verbündet sich Muster, gerade erst auf freiem Fuß, mit dem gescheiterten Filmemacher Fünfunddreißig und baut in dessen leerstehendem Kino eine Druckerei auf. Weil kein Geld für Personal vorhanden ist, schleppen sie die Schrägen an die Druckmaschinen, also alle Behinderten, Obdachlosen und Ausgestoßenen, die gerade sowieso nichts Besseres zu tun haben, und steigen ins Raubdruckgewerbe ein. Während das „Buch der Wahrheit“ langsam in Versform heranreift, sorgt das erste eigene Werk der Untergrund-Drucker für einen nationalen Notstand: In ihm erzählen alle Schrägen ihre Lebensgeschichten, die sich zu einer einzigen riesigen Anklage gegen Repression und Ungerechtigkeit manifestieren – und Fünfunddreißig hat endlich Stoff für einen neuen Film...

Murat Uyurkulaks zweiter Roman nach seinem fulminanten Debüt „Zorn“ (2002) ist eine bitterböse Satire auf die Verhältnisse in der Türkei einerseits und auf die Absurditäten religiösen Wahns andererseits. Hemmungs- und respektlos lässt er die Welt in Fetzen gehen und schafft es ganz spielerisch nebenbei noch, den Literatur- und Kulturbetrieb aufs Korn zu nehmen. Uyurkulak, 1977 geboren, lebt heute als Schriftsteller und Journalist in Istanbul und gehört zur jungen Generation türkischer Autoren, die nicht nur die türkische Literatur von Grund auf erneuern und dabei Bücher von internationalem Rang schreiben, sondern zugleich auch mit all den alten Tabus der Gesellschaft, in der sie leben, brechen. Sie üben offene politische Kritik und auch die Religion lassen sie nicht unangetastet, was langsam aber sicher zu einem Wandel beiträgt. Der Staat versucht immer wieder dieser Bedrohung seiner Machtverhältnisse durch gezielte Repressionen gegen Künstler zu begegnen, doch Bücher wie „Glut“ lassen sich nicht verhaften.

Murat Uyurkulak
Glut
Übersetzung:
Sabine Adatepe
Deutsche Erstausgabe
binooki
2013 · 285 Seiten · 18,90 Euro
ISBN:
978-3943562200

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