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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Ein totes Pferd

Hamburg

Das Neugeborene schreit vor Schmerzen. Tag für Tag. Angeblich sind es die berüchtigten Drei-Monats-Koliken. Nichts scheint Linderung zu versprechen. Aber da muss es nun einmal durch. Und seine Eltern auch. Obwohl die gestresst sind und nicht wissen, wie sie das Kind beruhigen können. Außer, ja, außer mit Neil Young, stellt der Vater fest. Und spielt seiner Tochter im Babyalter dessen Songs über das Leben und Sterben, Genozide und Hilfslosigkeit vor. Sie beruhigt sich und Vater nutzt die Verschnaufpause, die ihm durch die sedierenden Stücke des kanadischen Rock-Musikers gewährt werden, um eben dem einen Thron zu bauen.

Lange und ausschweifend, detailliert und begeistert analysiert er einzelne Songtexte und sogar der Morphologie einzelner Verse. Er schwelgt ausgehend von wenigen Worten des »rückwärtsgewandteste[n] Voranschreiter[s] der Rockmusik« in Erinnerungen an Konzerte, verflossene Lieben und seinen eigenen Vater. Was derweil mit seiner Tochter passiert, davon spricht Das Buch der von Neil Young Getöteten jedoch kaum. Es ist kein Roman im klassischen Sinne, sondern vielmehr eine Art persönlich eingefärbtes Essay mit kulturwissenschaftlichem, aber auch mystizistischem Charakter.

Namenspate des ursprünglich 2002 bei Ammann erschienenen Büchleins, das nun von Suhrkamp neu verlegt wurde,  ist Das Buch der vom Koran Getöteten, einer Handschrift über Mystiker, die dem Studium des Korans im wahrsten Sinne des Wortes zum Opfer gefallen sind. Autor Navid Kermani, wie der Protagonist dieses stark autobiografisch geprägten Buches Orientalist mit Schwerpunkt auf islamischer Mystik, liest Youngs Lyrics mit schwulstiger Feierlichkeit, ganz wie eine sakrale Schrift. Die Worte Youngs, so der Subtext, tragen Leben und Tod in sich, ganz wie die eines Gottes.

Das Buch der von Neil Young Getöteten übt sich in einer erzwungenen Apotheose, die ihrem Gegenstand nur vordergründig mit Ernsthaftigkeit begegnet. Kermani zieht haufenweise Vergleiche zu Schriftstellern wie Marcel Proust und Franz Kafka und vermeint in Youngs Lyrics Gedanken von Hegel, Heidegger und Adorno widerhallen zu hören. Wirklich leugnen lässt sich das nicht, denn die Ausführungen sind stellenweise nicht nur interessant zu lesen, sondern argumentieren auch schlüssig am Text.

Aber der bemühte Versuch, Youngs Opus zu intellektualisieren, erinnert ein wenig an die vielen Stimmen, die den Literaturnobelpreis für Bob Dylan fordern. Das Prinzip ist dasselbe: In beiden Fällen nämlich ist die Trennung zwischen E- und U-Kultur noch in den Köpfen verankert. Wer Young und Dylan in den Bereich der etablierten Hochkultur heben will, nimmt ihrer Kunst nicht nur das dissidente Potenzial (das, nur am Rande, beide schon selbst vor gut 40 Jahren verspielt haben), sondern zeigt sich auch in ignoranten und elitären Denkmustern verhaftet. Als könnte Popkultur nicht für sich bereits genug Stoff liefern – nein, ihre Vertreter müssen auf Zwang in bildungsbürgerliche Denkmuster gequetscht werden.

Wer Rockmusik dermaßen penetrant zu musealisieren versucht, der killt sie. Und ihr ganzes Potenzial gleich mit. Rock’n’Roll, das ist in diesem Fall ein totes Pferd, das Kermani vergeblich aufsatteln möchte. Zutiefst ironisch, dass er eigentlich als scharfer Kritiker der verzerrten Darstellung von Religionen und ihren Schriften bekannt ist. Warum schafft er es dann nicht, einen unvoreingenommenen Blick auf Young zu werfen? Und wie geht es noch mal der Tochter? Ach ja, gut mittlerweile, danke der Nachfrage.

Navid Kermani
Das Buch der von Neil Young Getöteten
Suhrkamp
2013 · 144 Seiten · 7,99 Euro
ISBN:
978-3-518-46461-8

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