Einst mühsam waren Kuhmilch und Schrift
Die spanischen Acht-Reales-Münzen waren das erste echte Weltgeld. Sie wurden nach 1570 in Potosí in Bolivien geprägt, wo die Spanier in den 1540er Jahren eine Silbermine entdeckt hatten. Die Münzen wurden auf Lamas verladen und über die Anden nach Lima und an die Pazifikküste gebracht, von dort nach Panama verschifft, über den Isthmus getragen und in Schiffsverbänden über den Atlantik transportiert; so finanzierten die Spanier ihre politische und wirtschaftliche Macht. In der ganzen Welt konnte man über 200 Jahre mit dem peso de ocho reales zahlen. Andere Länder stempelten neue Hoheitszeichen in die Münzen und übernahmen sie als eigene Währung.
Der spanische Reichtum hatte einen Preis, den die eingeborenen Zwangsarbeiter zu zahlen hatten: Sie holten sich in der Höhenluft des Gebirges Lungenentzündung oder starben an Quecksilbervergiftung. Als die indianischen Arbeiter knapp wurden, holte man ab 1600 afrikanische Sklaven für die Arbeit in den Silberbergwerken. Aber auch Spanien zahlte einen Preis: Durch die fortlaufende Produktion von Silbermünzen kam es zu einer Art Inflation, und weil man das Silber mit vollen Händen für importierte Waren ausgab, verkümmerte die eigene Wirtschaft.
Dies und noch mehr erfährt man im Kapitel „Acht-Reales-Stücke“, dem 80. von 100 Kapiteln des Buchs „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“. Die 100 vorgestellten Objekte stammen aus den Beständen des Britischen Museums, dessen Direktor Neil MacGregor sie für eine Sendereihe der BBC im Jahr 2010 ausgewählt hat. Sein Programm lautet: Ich will Geschichte mit Hilfe von Dingen erzählen. Die Objekte sollen aus der ganzen Welt stammen, viele Aspekte menschlicher Erfahrung abdecken und ein Bild der ganzen Geschichte liefern. Dabei müssen einzelne Ereignisse zurücktreten; eher soll ein Bild der jeweiligen Gesellschaft gezeichnet, sollen komplexe Prozesse dargestellt werden. Was mir aufgefallen ist: Oft wird erklärt, woher die Materialien stammen, aus denen ein Objekt angefertigt ist, und was deren Herkunft über Handelsbeziehungen und politische Konstellationen verrät. Manchmal wird auch erzählt, welches Schicksal ein Objekt gehabt hat und wie es ins Britische Museum gekommen ist. MacGregor ist jedenfalls überzeugt, „dass das Studium der Dinge zu einem besseren Verständnis der Welt führen kann“.
Seine Herkunft aus einer Rundfunksendung merkt man dem Buch an: Alle Kapitel sind rund 5 Seiten lang, die Sprache ist einfach; regelmäßig kommen Fachleute zu Wort, um einen Aspekt eines bestimmten Objekts zu erklären. Meistens sind die Objekte auch beschrieben, weil man sie im Rundfunk nicht sehen kann – das erleichtert jedoch ihr Verständnis; im Buch sind alle Objekte mit mindestens einer Abbildung vertreten. Eine verkürzte Fassung der damaligen Rundfunksendung plus Bild gibt es auch im Internet.
Um das Bild dieser kleinen Weltgeschichte abzurunden, seien noch weitere Objekte genannt: Das älteste ist ein Schneidewerkzeug der Oldowan-Kultur, beinahe 2.000.000 Jahre alt, das jüngste eine Solarlampe aus China, 2010 in Shenzhen hergestellt. Dazwischen stehen u.a. ein ägyptisches Tonmodell von Rindern, Siegel der Indus-Kultur, die Goldmünze des Krösus, Krüge aus Basse-Yutz, der Stein von Rosette, ein sitzender Buddha aus Gandhara, ein hebräisches Astrolabium, ein Dornenreliquiar, Dürers Rhinocerus oder ein australischer Borkenschild, den James Cook von seiner Weltreise mit nach England brachte.
Einige Probleme stecken in dieser auf Rundfunksendungen beruhenden Darstellung. Ich möchte vier von ihnen nennen. Das erste ist ihre Herkunft aus dem Britischen Museum: Wenn die Schätze, die die Engländer dort zusammengetragen haben, auch imposant sind, sind sie doch begrenzt. Aber das heißt nicht, dass man die Geschichte der Welt nicht erzählen könnte – die 100 Objekte stehen zu vielen Ereignissen, Menschen und Ländern in Beziehung.
Schwerer wiegt die Beschränkung, die sich aus der Zahl 100 ergibt. Diese Zahl steht für eine große Fülle; 100 Stichworte wählte man aus, um das deutsche Gesundheitswesen oder die Geschichte des 20. Jahrhunderts darzustellen. Aber wenn man die ganze Weltgeschichte an 100 Objekten vorführen will, muss notwendig manches fehlen, was man als Leser zur Weltgeschichte zählt, etwa die Französische Revolution. Darf man das einer Sendereihe anlasten, oder sollte man eher für die instruktive Erklärung der 100 Objekte dankbar sein?
Am Beispiel der Schrift kann man eine andere Grenze des Buchs erkennen: Der Durchbruch zur Schrift sei erfolgt, „als man erstmals begriff, dass ein graphisches Symbol wie das für Bier auf der Tafel nicht nur die dargestellte Sache bezeichnen konnte, sondern auch das, wonach das Wort für die Sache klang“. Dann liest man noch, dass die Schrift so phonetisch wurde – ohne dass man verstanden hätte, was wirklich passiert ist: Wonach klang das Wort, und wieso ist das mehr als das dargestellte Bier?Aber urteilen wir mit Augenmaß: Im entsprechenden Artikel der Wikipedia wird die Phonetisierung auch nicht wirklich deutlich. [Wie die Schrift phonetisch wurde, kann man durchaus kurz erklären: Das ägyptische Wort für einen Käfer war cheprer; das klang so ähnlich wie cheper = „werden“. So nahmen die Ägypter das Käferzeichen, um auch cheper damit zu schreiben.] Auch wird nicht recht klar, wie man mittels der Schrift neue Entitäten schafft: Geld, Unternehmen, Regierungen, auch wenn das in einem größeren Zitat John Searles steht. – Solche Unklarheiten, die auf der Pauschalität von Erklärungen (in einem Rundfunkvortrag) beruhen, gibt es mehrere.
Eine methodische Frage bleibt ebenfalls unklar: Wie können wir Menschen aus ferner Vergangenheit oder aus fremden Kulturkreisen verstehen? Sind sie uns prinzipiell gleich, sodass wir durch unsere Vorstellungskraft erahnen können, wie sie mit den Objekten umgegangen sind – was MacGregor durchgängig annimmt? Oder zeigt die amerikanische Hirschhautkarte (88. Stück) nicht doch auf, dass die Indianer die Welt ganz anders sahen als wir – „für sie war das Land im wörtlichen wie im metaphysischen Sinn eine Geburtsstätte – kein Territorium, das man an andere übertragen oder verkaufen konnte“? Wie gesagt, eine Frage, auf die es bei MacGregor zwei Antworten gibt, was aber nicht heißen muss, dass eine von ihnen falsch ist.
Trotz dieser Probleme ist das Buch lesenswert. Mir ist ein Licht aufgegangen, als ich gelesen habe, wie die Menschen sich mühsam daran gewöhnt haben, Kuhmilch zu trinken: „Es heißt oft, wir seien, was wir essen; vielleicht sollte man eher davon sprechen, dass wir sind, was unsere Vorfahren unter großen Mühen zu essen lernten.“ Idealerweise liest man das Buch wie es entstanden ist, häppchenweise.
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