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Kritik

Ein Davongekommener schreibt von Zeiten des Krieges

Der 1938 in Limuru, Kenia, geborene Ngũgĩ wa Thiong’o zählt zu den bedeutendsten afrikanischen Autoren, 2010 kam er sogar als Geheimfavorit für den Nobelpreis ins Gespräch. „Ich weiß nicht, welchen Platz ich unter den vierundzwanzig Kindern meines Vaters und seiner vier Frauen vom Alter her einnahm, aber ich war das fünfte Kind im Haus meiner Mutter.“ Alle vier Frauen des Vaters unterhielten ihren eigenen Haushalt in ihrem eigenen Haus, auch der Vater wohnte in seinem eigenen Haus. Zwischen den vier Ehefrauen herrschte ein labiles Beziehungsgeflecht. Am Abend wurden Geschichten erzählt, jemand begann und jemand anderer setzte fort. Auf diese Weise machte er seine ersten Begegnungen mit Geschichten, Erzähltechniken und mündlicher Überlieferung.

Die wichtigste Rolle in der Entwicklung und im Leben ihres zweitjüngsten Kindes spielte die Mutter. Trotz ihrer Armut ermöglichte sie ihm den Besuch einer Schule. Es war ein Pakt zwischen Mutter und Sohn, indem sie von ihm stets erwartete, der Beste zu sein und stets die gleiche Frage stellte: „Ist das das Beste, was du erreichen konntest?“ Tatsächlich nimmt Ngũgĩ alle Beschwerden auf sich, leidet oftmals Hunger, geht barfuss sechs Meilen zur Schule, hin und wieder zurück. Später bietet ihm das Lesen von Literatur Trost.

Als der Vater Ngũgĩs Mutter misshandelt, flieht sie zu ihren Eltern, worauf der Vater seinen Sohn von seinem Hof weist. Wenigstens ist er dadurch wieder bei seiner Mutter. Sie bleibt konsequent und kehrt nie mehr zu ihrem Ehemann zurück.

Einer seiner älteren Halbbrüder kämpfte im Zweiten Weltkrieg auf der Seite Großbritanniens. Kenia war damals noch eine britische Kolonie. Die Einheimischen wurden teils mit Tricks enteignet und Landbesitz britischen Veteranen geschenkt, wiewohl der eine ebenso wie der andere auf derselben Seite für dieselbe Sache gekämpft hatte. Menschen wurden ausgesiedelt, weil man sich ihres Landes bemächtigen wollte. Diese Ungerechtigkeit hinterließ Spuren.

All diese Ereignisse erzählt der Autor unprätentiös, baut zu seiner Leserschaft ein Vertrauen auf, das sich auf Ehrlichkeit begründet.

Parallel zu Ngũgĩs subjektiven Erinnerungen breitet der Autor eine objektive Darstellung von Kenias Geschichte aus, wodurch Privates sowohl eine historische als auch eine politische Dimension erlangt. Während sich einer seiner Brüder dem Mau-Mau-Widerstand anschließt, einer Unabhängigkeitsbewegung, vertritt ein anderer die britisch-koloniale Gegenseite.

Besonders eindringlich sind die Passagen, in denen der Autor sein Heranreifen zum Mann schildert, was sich in der Beschneidungszeremonie manifestiert, wodurch er mit einem Mal nicht mehr mit „Kindern“ spielen darf, dafür in den Kreis der Männer aufgenommen wird. Ein Beispiel der Willkür und Brutalität der Kolonialmacht liefert eine Episode auf dem Heimweg von der Schule: Ngũgĩ und sein Freund Kenneth geraten in eine Kontrolle der Regierungsmacht. Willkürlich wird misshandelt – die einen werden grundlos in ein Konzentrationslager gesteckt, die beiden haben Glück, noch einmal davongekommen zu sein. Trotz der Schreie und Schüsse drehen sie sich nicht um. „Ich erfuhr nie, was mit denen passiert war, die zurückbleiben mussten.“
Verhaftung und Folter erlebte Ngũgĩ wa Thiong’o am eigenen Leib von den postkolonialen Machthabern seiner Heimat, nachdem er 1977 sein Theaterstück „I Will Marry When I Want“ inszeniert hatte. 1982 gelang es ihm, nach London ins Exil zu gelangen, sodann in die USA, nach Kalifornien, wo er an der Universität von Irvine englische und vergleichende Literaturwissenschaften unterrichtet.

Um keine „afro-koloniale“ Literatur mehr zu schreiben, sondern „afro-afrikanische“, verfasste und publizierte Ngũgĩ seine Bücher ab 1979 auf Gīkūyū, seiner afrikanischen Muttersprache, um sie sodann ins Englische zu übersetzen.

Mit Ngũgĩs Aufnahme in die beste High School seines Landes endet die Autobiografie. Es wäre zu hoffen, dass Ngũgĩ wa Thiong’o einen Fortsetzungsband folgen lässt.

Ng?g? wa Thiong’o
Träume in Zeiten des Krieges
A1
2010 · 264 Seiten · 22,80 Euro
ISBN:
978-3-940666154

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