Kaleidoskop
Vielleicht fehlt uns ja noch so etwas wie eine europäische Literatur, eine, die nationalsprachliche Grenzen und Formen überwindet und Europa auch als geografischen Raum begreift, in dem sich Menschen eher tummeln als aufhalten. Wahrscheinlich geht das, zumindest was Prosa angeht, kaum durch Multilingualität innerhalb von Texten. Zumindest würde das die Verständlichkeit erschweren. Also muss sich die Struktur und Anlage der Texte den europäischen Gegebenheiten mimetisch anverwandeln. Dies verlangt sicher auch einen neuen Leser. Und ich glaube, Romane wie dieser sind dazu in der Lage, diesen Leser zu schaffen, ihn auf die Höhe seiner eigenen Zeit zu bringen. Und es erscheint mir nicht als Wunder, dass dieser schöne und auf seine Art avancierte Roman in einem eher kleinen Verlag erschienen ist. Allerdings schickt müry salzmann sich gerade an, sehr spannende Prosaprojekte zu versammeln.
Im Zweistromland liegt die (eine Wiege) unserer Kultur, zumindest stammt von dort der erste überlieferte Gesetzestext. Der erste Text also, der versuchte, eine Ordnung unter die Menschen zu bringen. Es hat den Anschein, als sei es nicht gelungen. Die Gesellschaften haben sich aufgefächert, Ordnungen wurden versucht, und waren im Augenblick ihres Inkrafttretens hinfällig. Einzig die scheinbar natürliche Ordnung familiärer Strukturen scheint von Bestand.
Insofern ist auch der Familienroman so etwas wie die letzte Bastion klassischen Erzählens. Aber mit der Familie löste sich dann eben auch diese Form, die sich an familiärer Struktur orientiert, auf. Das damit verbundene letztlich paternalistische Erzählen hatte seine Zeit und Wirklichkeit.
Nora Wicke legt mit Vierstromland eben jenen Roman vor, der nach der Familie kommt. Und nach der Nation, die letztlich Familien gleicher Sprache und Kultur virtuell und ideologisch zusammenfasst.
Familie bedeutete für mich stets Verstreuung, etwas ausgebreitetes, lose Verknüpftes, ja sogar etwas Unverbindliches. Ich konnte mich nicht mehr erinnern wie es gewesen war, mit Mutter, Vater und Geschwistern in einem Haus zu leben, ich sah das zwar bei Schulkameraden, bei Nachbarn, es war mir nicht fremd, es gehörte nur nicht zu meinem Leben.
Dieser Satz ganz am Anfang des Romans beschreibt die Situation aus der heraus die Protagonistin ihr Leben entwirft. Sie scheint sich treiben zu lassen in einer Welt aus Versatzstücken. Findet aber in diesem Treiben ihre eigene und damit eine neuartige Souveränität. Im Versuch, die Familie zu (re)konstruieren. Das, was Wicke als Wirklichkeit darstellt, lässt sich aber mit derart Klammern wie Familie und Nation nicht mehr binden. Aus zwei Flüssen sind (mindestens) vier geworden. Donau, Seine, Save und Spree.
Und ebenso vielfältig wie die Gegenden, in denen sie aufwächst, sind die Sprachen, die um sie herum gesprochen werden. Entsprechend changiert auch der Rufname der Protagonistin zwischen Laurenzia und Eliza.
Eliza wandert auf den Spuren ihrer Mutter durch Briefe und Städte. Ihre Angehörigen und die Angehörigen ihrer Angehörigen bilden ein loses Netz, das sich über den Kontinent ausbreitet. Von serbischen und rumänischen Dörfern, Paris, Amsterdam und Berlin. Vielleicht ist es eine Metapher für jene Zentrumslosigkeit, dass Elizas Mutter gestorben ist, nur in der Erinnerung und der Verfasserin von Briefen in Erscheinung tritt. Sie war Musikerin. Das Unstete ihres Lebenswandels jedenfalls steckte das Feld ab, in der sich die Prosa des Buches im Präsens entfaltet. Kaleidoskopartig, in kurzen Kapiteln, aber auf insgesamt 320 Seiten.
Und natürlich setzte die Wanderung viel früher ein als in Elizas Recherche. Die Gegenwart der Protagonistin verwandelt die Vergangenheit oder besser: bildet sie um. Es scheint nie eine wanderfreie Zeit in Europa gegeben zu haben und wahrscheinlich ist ja der Mythos von nationaler und familiärer Sesshaftigkeit der, der sich mit solchen Romanen auf eine wundervolle Weise auflöst.
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