Lieder aus melancholischem Geäst
Zwei Gedichtbände haben mich im letzten Herbst besonders angesprochen, beide sind sich hinsichtlich des Tonfalls, der strengen Form, der durchgehenden Kleinschreibung gar nicht einmal so unähnlich, trotzdem sind sie auf ihre jeweils eigene Art unverwechselbar: der eine ist „am hellen rand“ von Carsten Zimmermann, der andere „Fegefeuer“ von Norbert Hummelt. Beobachtet Zimmermann aus einer kühlen, heiteren, philosophischen Ruhe, großartig im Kleinen, überlegen und überlegt, und formt sein Blick die Wahrnehmung der Dinge — so ist Hummelt dagegen unruhiger, noch warm von den Schlacken, die er soeben erst zerbrochen hat, um zur Klarheit zu gelangen, und die Dinge, ebenfalls großartig im Kleinen, sind ihm viel stärkerer Movens einer inneren, innerlichen Bewegung. Das ist zwar ein nur gradueller, doch am Ende essentieller Unterschied.
Man kann wohl ohne Übertreibung behaupten, daß mit „Fegefeuer“ Norbert Hummelts bislang konsequentester Band im Sinne eines souveränen Umgangs mit dem Stoff vorliegt. Gleich das erste Gedicht zitiert wenig zurückhaltend den Beginn der „Göttlichen Komödie“ und führt im unverwechselbaren Hummeltschen Tonfall in eine „waldschlucht“, nicht unähnlich der, in der sich der italienische Dichter am Beginn der Hölle wiederfindet:
u. nahm die schlucht noch einmal in den blick
die mir die dunkelhellen träume sandte
u. immer wieder kehre ich zurück.
Es folgt eine Reihe genau komponierter Begegnungen mit sich selbst und den Erinnerungen, mit Personen und Orten aus dieser eigenen Vergangenheit, wobei sich das Dante-Motiv auch in formaler Hinsicht durch den gesamten Band zieht, mal als dreizeilige ungereimte Strophen, mal als echte Terzinen, und daneben mäandern unregelmäßige Binnenreime überall durch die Gedichte und verleihen ihnen eine freie Sanglichkeit, die zum melancholischen Schweben zwischen genauer Sicht und undeutlichem Ahnen paßt, das mit einigen sprachlichen Signalen außerdem immer wieder die Romantiker heraufbeschwört, sehr subtil, sehr behutsam und kaum hörbar allerdings.
Von der Veränderung und den unveränderlichen Dingen, vom Gehen und Ankommen, vom Abschied und Neubeginn, vom Unterwegssein dazwischen handeln die meisten Gedichte des Bands. Ihr Raum ist jenes bereits erwähnte Helldunkel, eine superbe Mischung aus Clairvoyance im buchstäblichen Sinn und Traurigkeit, ein Raum, der sich sowohl außen als auch im Inneren des Subjekts befindet:
ich muß / ihn tragen, doch der weg ist weit. mein kopf ist voll // von abgestorbenen sachen
Diese „abgestorbenen Sachen“ sind vergangen, aber längst nicht abgelegt, so daß der Weg einer der beständigen Rückschau ist. Kindheitserinnerungen blitzen auf, wiederbegangene Orte, Erscheinungen des Vaters, der Mutter, früherer Geliebter, es scheint, was hier abgeschritten wird, durchs Schreiben geläutert, ist ein immenser Verlustraum. Gleichzeitig ist der auf diese Weise Schreibende hochsensibilisiert für seine Umwelt, und hier gelingt es Hummelt, aus einfachen Beobachtungen stärkste Empfindungen — als Bildaufrisse für den Leser — zu kondensieren:
ohne warnung kam die schwüle an einem nachmittag da
nichts geschah. in den räumen innen begann die zeit der
großen spinnen, da zog es mich erneut zum trümmerberg.
Ein Großteil der Sammlung sind Freiluftgedichte, die ihren Ausgang bei einem konkreten, oft namentlich genannten, gleichsam aus der Erinnerungshölle heraufgerufenen Ort oder bei einer Pflanze bzw. einem Tier nehmen. Solche Orte betritt man einsam, höchstens zu zweit. Oder aber in seltsamer Entfremdung, womöglich als Doppelgänger:
ist es der gleiche, derselbe gar, den ich anderntags
in der frühe, nah bei der brüchigen ziegelmauer
im wingert sah? geht mir nun aber doch durchden sinn, ob ich es überhaupt selber bin, der an dem
morgen im wingert war, u. über der mauer, hoch
über der mauer, den aufflug der beiden raubvögel sah.
Es ist dieses Fegefeuer eine Meditation über das Verlieren und Wiederfinden, denn am Ende ist doch vieles schreibend aus der Erinnerung gerettet, und den Schreibenden, Erlebenden, führt es immerhin bis auf den Läuterungsberg, auch wenn der nur aus Trümmern, aus den Bruchstücken der Erinnerung besteht. Die souveräne Bewältigung, das Über-den-Verlusten- Stehen zeigt sich weniger in dem, was gesagt wird, vielmehr darin, wie es zur Sprache kommt, im kunstvollen Umgang mit der Sprache, die sich keinmal so artifiziell versteigt, daß sie unglaubwürdig würde.
Wirklich schlimm und den solchermaßen vertrauenswerten Autor verhöhnend ist allerdings — das muß an dieser Stelle leider in aller Schärfe gesagt werden — die nicht einmal mehr bauernfängerische, sondern in ihrer Ausschließlichkeit einfach bloß dummdreiste Behauptung des Waschzettels: „Emotional glaubwürdiger und literarisch überlegter schreibt heute niemand unter den deutschsprachigen Lyrikern.“ Das ist ein Affront gegen Dutzende gegenwärtiger Dichter, die exakt bedenken, was sie schreiben, und manches Gefühl einfließen lassen (auch wenn es verpönt ist), — ein Affront also, der die (vorgebliche oder tatsächliche) Unkenntnis des zuständigen Lektors in eine hochnotpeinliche Pathosformel hüllt. Und das, Herr Luchterhand-Lektor, möchten wir uns in Zukunft nachhaltig verbitten!
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