Neue Namen, alte Probleme
NoViolet Bulawayos Romandebüt "Wir brauchen neue Namen" (erschienen im englischen Original 2013, auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag 2014) vereint unmittelbar erkennbar relevante Themen und eine markante, direkte und ungeniert subjektive Stimme.
Wir lernen Bulawayos Protagonistin Darling als zehnjähriges Mädchen kennen, das in einem Slum namens "Paradise" in Zimbabwe unter einigermaßen zerrütteten Umständen aufwächst. Darling und ihre Freunde, weitgehend sich selbst überlassen, erleben und reagieren auf die Sorte von Situationen und Katastrophen, die unter den Bedingungen echter endemischer Armut den Alltag prägen. Darlings innerer Monolog hat dabei eine unverwechselbare Qualität; dies ist eine der großen Stärken des Buchs. Es ist ihr kindlicher, aber früh schon abgeklärter Blick, den wir mit Darling nicht nur auf das Leben ihres Umfeldes werfen, sondern schließlich auch auf politische Kräfteverhältnisse und Klassenkämpfe-von-oben, die dieses Leben meist mittelbar, aber gelegentlich unmittelbar, bestimmen. Ungefähr in der Mitte des Buches erfolgt eine Zäsur: Eine Tante holt Darling zu sich in die USA. Wir brauchen an dieser Stelle beim Lesen einige Absätze, um uns zu orientieren, und stellen schließlich fest, wir sehen die Welt nun aus den Augen des Teenagers, zu dem sich Darling entwickelt hat; freilich ist sie nicht bloß ein Kind "zwischen den Kulturen", sondern weiterhin ausgegrenzt, zugleich sichtbar und unsichtbar, konkret: Nach ihrem Schulabschluss steht sie ohne Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis da und kann deshalb nicht nach Zimbabwe, weil sie dann nicht wieder zurück nach Amerika dürfte.
Was das Buch bestimmt ist, wie schon gesagt, die Insistenz auf die Subjektposition Darlings. Sie trägt die Lektüre. Die direkte, nur scheinbar naive Aufzählung dessen, was sich dem Kinderblick aufs Elend darbietet, entwickelt in einzelnen Absätzen einen Sog, der an bestimmte Gebilde der Spoken-Word-Poetry gemahnt, ohne, dass das inhaltliche Voranschreiten der jeweiligen Szene dadurch suspendiert würde. Die Frage nach der Subjektposition, vermittelt durch die direkte Umwelt - nennen wir den Komplex "Heimat" - ist denn auch das Großthema des Romans. Gegen Ende des Buchs wird ein alter Freund Darling per Skype-Gespräch vorwerfen, sie habe Zimbabwe den Rücken gekehrt (das ist ungerecht, denn wohl kaum kann man einer Zehnjährigen die Entscheidungen der für sie verantwortlichen Erwachsener vorwerfen, aber wir fühlen mit Darling den Vorwurf zutreffen), Amerika dagegen kann gar nicht ihre Heimat sein, solange sie jederzeit abgeschoben werden könnte und offiziell nicht arbeiten darf.
Ich habe in anderem Kontext gefordert, es bräuchte mehr, viel mehr nicht-weisse, nicht-cismännliche, nicht-wohlhabende Protagonisten in unserer Erzählliteratur zum identifikatorischen Lesen. Gebilde wie der vorliegende Roman waren, was mir mit jener Forderung vorschwebte. Doch in der sehr speziellen Subjektivität des Bandes liegen im Fall von "Wir brauchen neue Namen" auch zwei Schwierigkeiten begründet:
Die eine ist die Gefahr der Verwechslung von Verständnis und Verstehen, von Empathie und Analyse. Der gut, weil genau, inszenierte kindliche Blick ist zwar ein probates Vehikel, um beispielsweise an der Verehrung, die Darlings Aufpasserin Mother of Bones dem religiösen Scharlatan Prophet Revelations Bitchington Mborro entgegenbringt, diesen oder jenen systemischen Faktor religiösen Wahns und religiöser Macht ohne großes Aufhebens abzubilden. Doch zwischen der Abbildung einer Sache und der Erkenntnis dieser Sache liegen so viele Welten wie zwischen Paradise, Zimbabwe und den USA.
Die andere Schwierigkeit ist der Eindruck der Alternativlosigkeit, gewissermaßen der "Natürlichkeit" dessen, was schlechterdings ist, wie solche Prosa ihn uns stets mit-vermittelt. "Natürlich" folgt auf diese Aktion genau jene Reaktion, auf diesen Eindruck jene Reflexion; diese optische Täuschung, die zustande kommt, weil jede Geschichte im Nachhinein aufgeschrieben wird, ist umso glaubwürdiger, je vollständiger überzeugend unser Ich-Surrogat im Text sich gibt. Dies ist natürlich keine Schwierigkeit für den Text selber, der mit solcher Täuschungsarbeit nur umso besser die Welt schildert, wie sie sich Darling darbietet. Es ist vielmehr eine für den Rezipienten, dem wie bei jedem anderen Text auch erlaubt und möglich ist, über die Identifikation hinaus Bezüge und Kontexte um seine Lektüre zu gruppieren - bloß, dass er es im Fall von "Wir brauchen neue Namen" eben nicht nur kann, sondern muss.
Die Szene, die ich am erschreckendsten und eindrucksvollsten gefunden habe und die ich wohl lange behalten werde, schildert die Kinderhorde des Slums auf und nach dem Begräbnis einer Figur, die aus politischen Gründen ermordet wurde. Die Kinder spielen den Mord nach:
... aber Großmaul Bastard unterbricht mich und sagt, Ich bin Bornfree. Töte mich!
Zuerst stehen wir nur da und gucken das Grab an, als wenn es uns die Regeln für das Spiel mit Toten erklären soll, so was haben wir nämlich noch nie gespielt. Dann fängt Godknows an mit Tuten und Ächzen, und wir wissen, dass er der Laster ist, mit dem die bewaffneten Männer kamen, die hinter Bornfree her waren. Er wird lauter und lauter, und wir kommen in die Gänge. Schnappen uns schnell unsere Keulen und Macheten und Messer und Äxte und steigen auf den Laster. Stina zieht sein Was-würde-Jesus-tun-T-Shirt aus und wedelt damit rum, weil es jetzt die Landesflagge ist, und wir zeigen drauf mit unseren Waffen und singen den Namen des Präsidenten.
Godknows ist ein beängstigendes Auto; er ächzt und tutet und wirbelt Staub auf, bis er anhält, um uns rauszulassen, dann verwandelt er sich und wird einer von uns. Er zieht sein Arsenal-T-Shirt aus und schwenkt die Landesflagge durch die Luft. Inzwischen lachen wir und singen und stimmen Kriegslieder an und winken mit unseren Waffen. Wir sind ziemlich im Rausch; wir sind Tiere, und wir sind auf Blut aus.
(...) Nach dem Tanzen stürzen wir uns auf Bastard, der jetzt Bornfree ist. Wir schreien ihm ins Gesicht, während wir ihn verkloppen. Für wen arbeitest du? Verräter! Wer bezahlt dich? Amerika oder England? Warum rufst du dann nicht Amerika und England zu Hilfe? Freund der Kolonialisten! Verkaufst das Land an die Weißen! Glaubst du, du kannst einfach wählen, wer dir passt? Wähle jetzt, wir wollen es sehen, du Verräter!
(...) Dann schwingt Godknows einen Hammer, haut eine gerade Linie durch die Luft. Er trifft Bornfree am Hinterkopf, und ich höre, wie was zerbricht. Sbho schwingt eine Axt und hackt ihm in die Seite (...)
Was ist denn das für ein Spiel?, fragt jemand hinter uns. Als wir uns umdrehen, sind die beiden BBC-Männer wieder da. Sie stehen zwischen den Gräbern und beobachten uns mit ihren Dingern. Die Kamera klickt ein paarmal, wir werden fotografiert. Dann fragt der Große mit Haaren überall und einem Dschungel im Gesicht noch mal, Was habt ihr da gerade für ein Spiel gespielt?, und Bastard zieht sein T-Shirt an und sagt, Seht ihr nicht, das passiert in echt?
Fixpoetry 2015
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Kommentare
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Mehr neue Namen, mehr Subversion, weniger Pop gibt es übrigens hier:
http://laputa-verlag.blogspot.de/2015/03/dieses-buch-ist-besser-als-pop....
Harald Rutzen: "Es gibt immer mal wieder Leute..." Laputa Verlag
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