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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Taumeln gehört zum Aroma

Ganz im Norden Serbiens in der Vojvodina, einem Ausläufer der pannonischen Tiefebene, an der Grenze zu Ungarn lebt Ottó Tolnai, einer der wichtigsten Autoren der zeitgenössischen ungarischen Literatur, dessen Werk auf Deutsch allerdings kaum greifbar ist. Zwei Erzählbändchen sind erschienen:  Ich kritzelte das Akazienwäldchen in mein Heft (2002), das Ilma Rakusa so rezensierte: ”Ungemein suggestiv entwirft Ottó Tolnai eine Welt, deren elementare Archaik ans Gewalttätige grenzt, ohne einen Rest von Poesie zu verleugnen.“, und Eine Postkarte an Don Dukay. Neun Geschichten aus der Provinz (2005). "Augenblicklich und wie durch ein Wunder verwandelt sich diese ländliche Gegend zum Mittelpunkt einer erschaffenen Welt, sobald Ottó Tolnai Hand daran gelegt und daraus Lyrik, Prosa oder Essays, mit einem Wort, eine charakteristische, groß angelegte Tolnaiade schöpft." konstatiert der ungarische Dichterkollege Lajos Parti Nagy.

Was eine Tolnaiade ist? Tatsächlich gibt es Eigenheiten in Tolnais Schreiben, die unverkennbar sind und die sich auch in dem 2009 in der Edition Korrespondenzen erschienenen Band Gedichte “Göttlicher Gestank” ausmachen lassen. Schon das handschriftlich geschriebene Gedicht auf dem Vorsatz zeigt Spuren davon: die Worte legen sich in Schlingen und werden selbst zu Fangseilen, attackiert und umspielt von Akzenten und Punkten, einfach und gedoppelt. Kein Kreuz, kein Schnitt, kein Hüben und Drüben. Die Worte schwingen durch den Raum mit ihren Zwiebeltürmen, Schmetterlingen, Pferdeköpfen.

Tolnais Lyrik funktioniert ähnlich. In ihr kollidiert graphische Härte mit der Weichheit des Raums. Tolnai arbeitet mit wenigen und sehr klaren Bildern, die er behutsam auserzählt und allmählich zu einem überraschenden Gesamtmotiv verbindet. Er arbeitet handwerklich derart sicher, daß er sich Verständlichem nicht verschließen muß, um das Wort zu benutzen als Molekül, dessen semantische Fakultät er zwar kennt und womit er gerne spielt, aber dabei letztendlich doch sehr genau abgrenzt, welches Sprachbild den Film zu entwickeln hilft, den seine Erzählung haben soll. „Es gibt keine Flächen“, sagt er mit Nietzsche, und denkt in die Tiefe verwebt, großräumig. Seine Geschichten starten bei einem Lappen in einem Zwetschgenbaum, der dort hängt, um nach dem Verlassen des Hauses und vor dem Gang in die Stadt, die Schuhe zu polieren und enden vor diesem Zwetschgenbaum mit einem glänzenden Besenstiel in der Hand, der wie eine Natter das All verschlingen will. Dazwischen passiert es. Figuren eines von dörflicher Kargheit und ausfluchtloser Direktheit bestimmten Lebens werden lebendig und Tolnai nimmt, was es gibt: da kann der Soldat, der sich in die Wärme des Bauchs eines verendeten Militärgauls hineinschneidet, um sich vor dem Erfrieren zu retten, genauso zum Zentrum eines Gedichtes werden, wie ein verlorener Handschuh am Boden. „jeder lügt der (sagt dass er) denkt“, schreibt Tolnai. Man geschieht nämlich. Im ländlichen Umfeld ist das leichter auszumachen, Geschichten sind da und können erzählt sein. Schönheit definiert er um – wo der Mensch sich an der Naturgewalt bewährt/bewähren muß, da ist eine andere Anwesenheit, Anderes anwesend.

Es sind breit angelegte, über viele Zuströme (sehr selbstverständlich auch aus dem Gegenwärtigen) entstehende Erzählungen, in denen einzelne Bilder zu großen Motiven zusammenfinden. Fein geknüpfte, durch Wiederholungen verschärfte Langgedichte wie „Der Rosshaarbesen“ , die in ihrer spannend angelegten Sprunghaftigkeit um etwas herumtanzen und die Tolnai zu einem Dichter des Raums machen. Das Aroma der Welt braucht Moleküle, die miteinander reagieren und Tolnai scheut keine Substanz. Nicht einmal Scheiße – die auf ganz unaufgeregte Art und Weise enthalten ist, einfach weil sie dazu gehört zu dem langen Satz, den die Realität aus uns macht und den Tolnai als poetische Verkettung darstellen kann, weil er seine Lesbarkeit nicht verweigert. Der rote Faden ist „im schlimmsten Fall um den eigenen Hals gewickelt“. Daß es der rote Faden ist, sieht er (man nur) aus der Distanz. Oder im Spiegel.

„Unsere Sprache ist uralt und modern, vom Walde, vom Felde und städtisch, asiatisch und europäisch.“ hat der ungarische Lyriker Attila Jószef (1905-1937) gesagt. Die Übersetzerin Zsuzsanna Gahse hat die 24 Gedichte dieses Bandes zusammen mit dem Autor ausgewählt und es ist eine ganz eigene, stimmige Komposition geworden, die vieles von dem sehr speziellen Zauber der ungarischen Sprache auch ins Deutsche rettet, was kein Leichtes ist. „Die Wörter sitzen dichter beisammen, der Sinn ist weniger detailliert aufgeschlüsselt; was gesagt und erzählt wird, kommt dadurch ins Taumeln, wobei dieses Taumeln wunderbare Qualitäten hat und unbedingt zu den Talenten dieser Sprache gehört.“, schreibt Zsuzsanna Gahse im Nachwort. Es ist ihr gelungen diese schwankende Festigkeit, die ein elementares Kennzeichen des Lebendigen ist, den Übersetzungen mitzugeben und Tolnais Lyrik auch im Deutschen zu einem wunderbaren Leseerlebnis zu machen.

Ottó Tolnai
Göttlicher Gestank
Übersetzung:
Zsuzsanna Ghase
Edition Korrespondenzen
2009 · 160 Seiten · 21,50 Euro
ISBN:
978-3-902113634

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