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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

„Zwischen den Sekunden steht die Uhr.“

Ein Band mit Prosaminiaturen von Patrick Beck lässt den Rezensenten ratlos zurück.
Hamburg

Es ist immer schön, wenn sich ein Produkt als exakt das ankündigt, was es ist. Weniges ist fürchterlicher als ein kitschiger Liebesfilm, angekündigt durch SciFi/Action-lastige Plakate, oder ein "Müsliriegel", der zu zwei Dritteln aus Zucker besteht. Patrick Becks Buch "Das Skelett des Moments. Andere imaginäre Orte", das in der Lyrik Edition 2000 erschienen ist, ist in dieser Hinsicht zu loben: Die 63 Prosaminiaturen, die es enthält, liefern genau, was der Titel verheisst: Es sind Skelette von Momenten, die sich an imaginären Orten ereignen. Beispielsweise dieses:

Der Turm

Unten eine Treppe aus Stein, stellt Stufe auf Stufe. Dann eine Stiege aus Stahl, schraubt sich nach oben. Am Ende eine Leiter aus Holz als Hebel. Der Rauch aber steigt höher, löst sich im Himmel.

Leider erschließt sich mir dabei nicht - aber das ist eine subjektive Geschmacksfrage, wie so vieles andere in der Literatur - warum mich diese Orte, diese Momente, diese Skelette interessieren sollen. Es ergeht mir beim Lesen wie dem Besucher einer musealen Sammlung von Tierskeletten, der sich - der ansprechenden Aufmachung, der systematischen Gliederung, selbst der Seltenheit und klugen Auswahl der Exponate zum Trotz - die ganze Zeit dabei ertappt, daran zu denken, er wäre eigentlich doch lieber in den Zoo gegangen.

Eine andere Annäherung an den Band, und an meine eigene Ratlosigkeit im Umgang mit ihm, wäre der Hinweis auf die Traumartigkeit vieler seiner Gebilde. Mit einem gekonnt gesetzten Minimum an Informationen erzeugt Beck auch dann eine tendenziell surreale Atmosphäre um seine Gegenstände herum, wo er sie "nur" "abbildet". Manche der Gedichte - zum Beispiel das allererste - machen den Eindruck, knapp davorzustehen, so etwas wie eine Eigendynamik zu entwickeln. Sie strahlen eine Bewegungslatenz aus, kraft derer das statische Traumbild zum vollgültigen Traum kippen zu können scheint. Ist es diese Möglichkeit, diese Leseweise, die das Buch ausstellen und als poetisches Alleinstellungsmerkmal behaupten will? "Man lese drei oder fünf einfache Zeilen, lasse sich auf sie ein, und wird beobachten können, wie sich aus ihnen eine viel umfangreichere Bilder- und Gedankenflucht entwickelt, als sichtbar auf dem Papier steht" - so? - Wenn es Beck tatsächlich hierum gehen sollte: Ja, das findet zwischen den Deckeln dieses Buches statt, und es bedarf erkennbar einigen Könnens, diesen Effekt zu erzielen. Aber da zumindest ich persönlich schon ungefähr weiß, wie die Tagträume aussehen, die mein Gehirn generiert - da ich dagegen aber nicht weiß, wie die Tagträume der lyrischen Subjekte von Patrick Beck aussehen, wenn sie über den einen je geschilderten Moment hinausgehen - würde ich statt meiner eigenen Assoziations- und Gedankenfluchten angesichts der von diesen Gedichten aufgerufenen Eindrücke doch lieber die seinen bzw. ihren rezipieren dürfen.

Oder geht es Beck im Gegenteil gerade nicht darum, mich dazu zu verführen, seine "Skelette" vor meinem inneren Auge zum Leben zu erwecken? Weist der Titel in die andere Richtung und der Band besteht in 63 Behauptungen davon, welche Momente, welche Träume eben nicht lebendig, sondern tot wären? Muss man den Band als Spaziergang einer Aussteiger-, Rückzüglerpersönlichkeit durch Landschaften lesen, die sich diesem Ich/Du eben nicht mehr öffnen werden, die für ihn "gestorben" sind, von denen ihm/ihr kaum noch eine Erinnerung bleibt?

Wieder eine andere Lesart könnte von den behandelten Stoffen ausgehen und konstatieren, dass da - im Jahr 2015! - nochmal das ganze Arsenal der sehnsüchtigen, der schwärmerischen Romantik aufgeboten wird, verbunden mit Nahaufnahmen auf die einzelne Geste, die isolierte Körperempfindung... Aber alles das eben, wie der Titel sagt, unter den Auspizien von Scheinlebendigkeit und Wiedergängertum. Dann wäre das ganze Buch ein sehenden Auges verfasster Abgesang an die irrationalistischen, somnambulen Strömungen der Dichtung des vorvorigen Jahrhunderts, der Friedhofsbesuch eines dankbaren Ururenkels (was zugleich wieder ein hübsch romantik-kompatibles Thema abgibt).

Von diesen drei Interpretationen dessen, was "Das Skelett des Moments" eigentlich will, erscheint mir die erste am plausibelsten (dass sie sich gegenseitig nicht völlig ausschließen, ist auch klar): Becks Prosagedichte als hermetische Poesie, in einer Sonderform, die über kalkulierte psychologische Wirkungen funktioniert...

In jedem Fall aber gilt: Dass diesem ganzen Band in einer nicht zu ignorierenden Weise eine mir selber völlig unverständliche Auffassung davon zu Grunde liegt, warum jemand Lyrik liest. Das bedeutet nicht, dass "Das Skelett des Moments" schlecht wäre - im Gegenteil: Der Autor bedient sich seiner Mittel wie gesagt zielsicher und gekonnt; das Buch hat ein kluges und bezeichenbares zentrales Bauprinzip, erschöpft sich aber nicht darin, dieses Malen-nach-Zahlen-mäßig auf alle möglichen Sachverhalte anzuwenden, sondern zettelt auch paradoxe Überschreitungen an, die weiterhin "dem Buchstaben des Gesetzes gehorchen". Und Gebilde, die mich so offenkundig nichts angeht, und mich nach erfolgter Lektüre dann doch so lange mit der Frage traktieren, was genau es denn nun gewesen sei, das mich da nichts anging, weisen zumindest die Stärke der Einprägsamkeit auf.

Patrick Beck
Das Skelett des Moments
Lyrikedition 2000
2015 · 96 Seiten · 11,50 Euro
ISBN:
978-3-86906-722-3

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