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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Der Reiz des Unklaren

Hamburg

Ein Literaturstudent, der davon träumt, Schriftsteller zu werden; ein erzählerisches Möbiusband, das mit Perspektivwechseln lockt und die Frage stellt, welchen Wert das nicht erzählte hat; zugleich eine sexuell explizite Liebesgeschichte, die an ihrer Langatmigkeit und schwachen Charakteren leidet: Paul Austers Roman „Unsichtbar“ ist wie dazu geschaffen, die Gemüter zu spalten.

"Unsichtbar" beleuchtet drei Jahreszeiten im Leben von Adam Walker, einem Literaturstudent der Columbia University, der davon träumt, Schriftsteller zu werden. Im Jahre 1967 trifft Adam einen französischen Professor auf einer Party in New York. Dessen Name, Rudolf Born, erinnert den Liebhaber französischer Lyrik sogleich an Bertrand Born, einen Troubadour aus dem 12. Jahrhundert. Der exzentrische Born bietet Adam ein üppiges Gehalt für die Gründung einer Literaturzeitschrift – ein Traumjob. Doch was – oder wer – steckt dahinter: Born selbst oder seine schweigsame Freundin Margot, die unzweifelhaftes Interesse an Adam zeigt? Diese scheint um sein Schicksal besorgt und auch er fühlt sich von ihr angezogen. Bald schon drängt Born ihn zum Geständnis seiner Zuneigung gegenüber Margot. Borns Stimmungsschwankungen und zweifelhafte Ansichten, die mitten im Vietnam-Desaster an den kriegsverherrlichenden Dichter erinnern, werden Walker immer unheimlicher. Tatsächlich hat der Professor etwas Finsteres an sich, und bald wird Adam Zeuge eines Mordes. Doch kann er seinen Augen wirklich trauen?

Auster hat ein unfehlbares Gespür für packende Anfänge wie diesen. Genau an dieser Stelle macht der Plot allerdings schlapp. Eine ungehörige Liebschaft folgt, die verblüffen soll, den Leser aber nicht im Geringsten zu berühren vermag. Zu vorhersehbar, zu langgedehnt, zu kunstlos geschildert. Obwohl wir in tiefste menschliche Abgründe blicken, verliert Auster sich vor allem sprachlich in Belanglosigkeiten, listet seitenlang die Synonyme für Genitalien auf, die Adams Geliebte verwendet. Sein Stil ist hier weder poetisch noch knapp und humorvoll, wie man es von ihm kennt: „Ein guter Orgasmus heißt bei ihr Knochenschüttler. Ihr Hintern heißt Popofax. Ihre Brüste nennt sie Möpse oder Titten, Möpschen oder Tittchen, ihre Zwillinge.“ Nicht zuletzt der Geschmacklosigkeit wegen langweilt dieser Teil. Zu wenig Reiz liefern auch die Figuren, die in ihrer Passivität oft belanglos und in ihrer Unergründlichkeit konstruiert wirken, zum Beispiel Margot, die vor allem gegen Ende des Romans immer blasser wirkt. Selbst Adam fehlen in seiner Rückgratlosigkeit jegliche Konturen.

Ein erneuter Perspektivenwechsel und einige Überraschungen halten den Leser dennoch am Ball. Vor allem Austers metafiktionale Spielchen und die Vermischung von Wirklichkeit und Erfindung regen an. Adams Bericht, den wir lesen, schreibt er (und die anderen Erzähler) im Laufe des Romans weiter – das Werk entsteht sozusagen, während wir lesen. Das Spiel mit dem unzuverlässigen Erzähler treibt Auster auf die Spitze: Ereignisse werden womöglich verschwiegen, verfälscht oder vergessen, verschiedene Erzählungen sind glaubhaft und doch unvereinbar; jeder konstruiert seine eigene Wahrheit. Die Rätsel vermehren sich, und das erzählerische Möbiusband führt uns nicht ans Licht: die Frage nach der Wahrheit löst Auster niemals völlig auf.

"Unsichtbar" erzählt von Grenzüberschreitungen und prekären Existenzen, verknüpft menschliche Abgründe mit kurzen unterhaltsamen Ausflügen in Literaturgeschichte, die großteils neu sind: unbekannte Dichter, untergegangene Werke. Das kann Auster ausgezeichnet. Liebhaber der Klarheit aber sollten ihre Hände von ihm lassen. Für alle anderen kann sich dieses Buch lohnen, das zwar einige Schwachstellen hat, gegen Ende jedoch die Kurve kriegt und zu einem Roman wird, den man lesen möchte: einem klugen, spannenden Roman.

Paul Auster
Unsichtbar
Rowohlt
2010 · 320 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-498000813
Erstveröffentlicht: 
cineastentreff.de

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