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Kritik

Die Schöpfung der Welt aus dem „Ich“.

Hamburg

Ein großer Name, ein kleiner Titel, ein ganzes Leben.

So könnte man die von Martin Simons editierten Tagebuchsequenzen Paul Nizons aus den Jahren 1960 bis 2000 zusammenfassen.

Laut Simons wurde aus den seit 1995 erschienenen fünf Bänden mit Tagebuchaufzeichnungen, die eher den Charakter von „Werkstattberichten“ hatten, durch die Verdichtung ein Einblick in die Existenzbedingungen des Schriftstellers Paul Nizon.

„Der Leser bekommt so eine Ahnung von der Vergeblichkeit, aber eben auch von der Großartigkeit eines radikal für die Literatur gelebten Lebens“, schreibt Simons im Vorwort, in dem er auch die Stationen von Nizons Lebenslauf nachzeichnet. 1929 in Bern als Sohn eines aus Russland emigrierten Chemikers und einer Schweizerin. Der Vater stirbt als Paul Nizon 12 Jahre alt ist. Die Mutter bleibt dem Sohn zeitlebens unnahbar. 4 Jahre später, mit 16, erklärt Nizon sich zum Dichter, ungeachtet der Tatsache, dass er noch keine Zeile zu Papier gebracht hat. Dennoch studiert er zunächst Kunstgeschichte, gründet eine Familie und lebt bis zum „Ausschlüpfen des Barbaren“ 1959 in Rom, ein bürgerliches Leben. Er geht sich selbst verloren, schreibt Simons über Nizon. Und meint damit, er geht sich selbst auf den Grund, er wagt die Suche nach dem Kern, dem was übrigbleibt, wenn alle Sicherheiten, Verbindungen und Verbindlichkeiten zerstört sind.

Gertrude Stein hat einmal geschrieben: „Schließlich ist jeder, das heißt jeder, der schreibt, daran interessiert, in sich selber zu leben, damit er sagen kann, was in ihm drinnen ist. Darum müssen Schriftsteller zwei Länder haben, eins, wohin sie gehören, und eins, in dem sie wirklich leben. Das zweite ist romantisch, es ist getrennt von einem selbst, es ist nicht wirklich, aber es ist wirklich da.“ Nizon hat sich aus dem anderen Leben, dem, das auch Schriftsteller mit allen anderen Menschen teilen vertrieben, und sich entschieden, nur noch in diesem zweiten Leben zu existieren.

Was nicht heißt, dass er nicht an den politischen und kulturellen Umbrüchen seiner Zeit Anteil nimmt. In den Aufzeichnungen aus den 60er Jahren spielen neben der Vaterrolle und den heruntergekommenen Behausungen, in denen Nizon lebt, Überlegungen zum Vietnam Krieg, zu den Ereignissen in London und Prag durchaus eine Rolle. In den 90er Jahren reflektiert er kenntnisreich über den Fremdenhass in Frankreich, über die Entwicklung in den Banlieus.

Immer wieder dominiert jedoch die Außenseiterrolle, in der sich Nizon selbst sieht. Das zwischen allen Stühlen stehen.

Mit dem Voranschreiten der Jahre nehmen Betrachtungen zum Alter immer mehr Raum ein, zunächst als Verweigerung der „Reife“, als Verherrlichung der ewigen Jugend. „Entwicklung ist Erblinden“, schreibt Nizon. Später auch in Form von Krankheiten und körperlichem Verfall.

Neben wunderbaren Porträts über Künstler, die Nizon verehrt, die ihn beeinflusst haben, und naturgemäß neben Betrachtungen über die Literatur schlechthin, „das echte Buch als außerordentliches Kunstwerk, ist die Ambivalenz in Nizons Lebens zentral in diesen verdichteten Aufzeichnungen. Das Leben (die Liebe, die Arbeit  und alles, was damit zusammenhängt) erscheint als ununterbrochener Balanceakt, immer an den Grenzen entlang, immer so nah am Abgrund, dass ein Absturz jederzeit möglich ist, eine Beruhigung und Mäßigung hingegen unmöglich erscheint. 

Auch bezüglich seiner Außenseiterrolle ist die Ambivalenz in den Aufzeichnungen Nizons spürbar. Es ist von Stolz die Rede, aber auch immer wieder von Einsamkeit. Was diese Eintragungen, neben der sprachlichen Brillanz, so anziehend macht, ist das Hinterfragen, der nicht nachlassende Mut, sehr genau hinzusehen, sich und seine Position immer wieder in Frage zu stellen. Das bewirkt, dass die Aufzeichnungen, obwohl sie naturgemäß die Person Nizon in den Mittelpunkt stellen, nie unangenehm selbstbezogen klingen.

Immer wieder blitzen atemberaubend schöne atmosphärisch dichte Beschreibungen auf. Auffallend ist, dass derartige Beschreibungen stets mit dem Ausdruck eines Glücksempfindens verbunden sind, während angstvolle oder niedergeschlagene Momente analytisch und aufzählend formuliert sind. Traurige Momente haben keine zu beschreibende, schillernde Umwelt.

Naturgemäß geht es auch um das spezielle Verhältnis von Nizon zu den Frauen, nicht so sehr um seine Bordellbesuche, eher um das, was Nizon in der Frau sieht und sucht. Denn sein Interesse beschränkt sich nicht auf körperliche Aspekte, auch wenn der Körper und seine Anziehung immer wieder eine große Rolle spielt. Der Körper ist ein Schlüssel, um dem „Geheimnis“ der Frau nahe zu kommen, sich diesem Mysterium anzunähern. Dabei ist Nizon stets voller Aufmerksamkeit für den weiblichen Körper, jedes Detail von den Nasenflügeln bis zu den Füßen würdigend. Andererseits sind Frauen für diesen „mutterlosen“ Mann nie gleichberechtigte Partner, immer ist eine übergroße Heilserwartung an sie geknüpft.

Sexualität ist für Nizon Heimat und Verwandlung. „Die leise Melancholie dieser mit ihrem Leib Gastgeberin verkörpernden Partnerin, weil sie es weiß, darum weiß, das Sinnende Nachsichtige, nun, vielleicht verschöne ich auch, aber was da im Tiefsten vor sich geht, die VERWANDLUNG im Fleische, kann im Geiste nie eingeholt werden.“

Ähnlich körperlich, vom Geist nicht einholbar, versteht Nizon auch seine Literatur, die er an einer Stelle in den Aufzeichnungen mit dem Aufplatzen der Kastanienblüten vergleicht, die er sich jedes Jahr aufs Neue voller Ehrfurcht und Freude ansieht. „Ich dachte weniger an aufbauende aufklärende Literatur denn an Sätze, die etwas greifen und ergreifen und in dem Leser aufgehen wie Knospen aufgehen, mit dem gleichen lautlosen Knall; und später lauben sie den Himmel ein, legen betörende Straßen vor die Augen, grün schäumende Himmelswege.“

In den Aufzeichnungen des letzten Jahrzehntes gewinnt das Alter eine immer größere Bedeutung. Nizon beschreibt, die „Entfremdung“ von der Welt durch das Alter. Er fühlt sich zunehmend ausgeschlossen von Entwicklungen, Phänomenen, dem Zeitgeist.

„Große Literatur“, schreibt Nizon, „und mag sie noch so modern oder besser innovativ und infolgedessen auch ketzerisch sein, besitzt jenen Echo Raum, ich will damit sagen, sie kommt von weither und aus der Tiefe der Zeit, wenn sie auch gegen die Mauer des Jetzt Sturm läuft. Wenn nicht, ist sie flach, unterhaltsame Kolportage oder Abwicklung und demgemäß geheimnislos. Alle bedeutenden modernen Bücher atmen diese Abkunft, oder täusche ich mich?“

Diese Definition großer Literatur, also der Literatur, die Nizon Zeit seines Lebens selbst zu schreiben bemüht ist, soll das Schlusswort dieser Besprechung sein, weil selbst hier am Ende ein Fragezeichen steht. Der Zweifel, ohne den es keine Größe gibt, weder in der Literatur, noch bei den Menschen.

Paul Nizon · Martin Simons (Hg.)
Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Suhrkamp
2013 · 350 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42386-8

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