Klarheit und Ruhe in der Seele
Pawel Florenski (1882-1937), dem der Ruf „Leonardo da Vinci des Ostens“ anhaftete, war ein ungewöhnlich begabter und vielseitiger Gelehrter. Neben Schriften zur orthodoxen Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte verfasste er auch bedeutende Artikel und Lehrbücher zur Physik, Elektrotechnik, Mathematik und Astronomie.
Bereits während seines Studiums der Mathematik und auch der antiken Philosophie hatte sich Florenski mit verschiedenen Schriftstellern und Philosophen wie etwa Valerij Brjussow, Sinaida Hippius, Dmitrij Merežkovskij oder Alexandr Blok bekannt gemacht. Mit dem symbolistischen Dichter Andrej Belyj war er befreundet. Im Herbst 1904 beendete Florenski das Mathematikstudium mit seiner Abschlußarbeit „Über die Besonderheiten flacher Kurven als Orte der Durchbrechung ihrer Kontinuität“. Überraschend lehnte er das Angebot einer akademischen Laufbahn ab und trat in die Moskauer Geistliche Akademie ein. Nach diesem Theologiestudium wurde Pawel Florenski 1911 vom Rektor der Geistlichen Akademie Bischof Theodor zum Priester geweiht. Bis 1919 wirkte Florenski in Sergijew Possad, einer der Herzkammern der russischen Orthodoxie. Dort hatte er auch seinem Freund, dem russischen Schriftsteller Wassili Rosanow auf dessen Sterbebett die Beichte abgenommen. Bereits nach der Februarrevolution 1917 begann Florenski mit der Niederschrift seines Testaments „Meinen Kindern: Anna, Wassili und Kirill und Oletschka - für den Fall meines Todes“. Ein philosophischer Rationalismus, der die Ehrfurcht vor Gott durch die unkontrollierte Herrschaft des Menschen ersetzt, stellte für Florenski eine Schreckensvision dar. Er fürchtete die vollständige Nivellierung bislang gülter Maßstäbe und Werte im Zuge eines unaufhaltsamen Triumphzuges einer künftigen Pöbelherrschaft.
Am 26. Februar 1933 war er von der GPU verhaftet und zuerst nach Sibirien, später in das berüchtigte Lager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer verbracht worden. Aus dieser Gegend, die rund 160 Kilometer vom Polarkreis entfernt liegt, hatte Florenski Briefe an seine Familie geschrieben. Die vorliegende, vorzüglich übersetzte und edierte Sammlung von Briefen aus dem Lager gewährt dem deutschen Leser erstmalig Einblicke in eindrucksvolle wie eindrückliche Briefsendungen. Aus einem Zeitraum von vier Jahren sind über 150 Briefe erhalten und nicht wenigen sind farbige Zeichnungen von Algen und Gestein aus dem Eismeer zugefügt. Die Briefe dokumentieren den ungebrochenen Forscherdrang Florenskis auch unter den Bedingungen in den verschiedenen Lagern sowie in der Verbannung. So war Florenski zunächst auf einer Versuchsstation zur Erforschung des Dauerfrostbodens abgeordnet. Auf den Solowki-Inselns beschäftigte er sich mit der Verwertung von Meeresalgen sowie dem möglichen Aufbau einer Jod- und Agarproduktion. Es gelang Florenski sogar, selbst unter diesen extrem widrigen Umständen einige Patente aus diesem Schaffensbereich anzumelden. In den Briefen an seine Familie berichtete Florenski zum Teil in wissenschaftlicher Genauigkeit von seinen Tätigkeiten, um seine Kinder zum genauen und sorgfältigen Studieren anzuregen: „Es wäre gut, wenn Du beim Herumstromern das Merkwürdige, das Dir begegnet, zeichnen würdest, Vogelnester, Pilze, Pflanzen, Astlöcher, knorrige Bäume, vielleicht sogar Vögel. Schreib auch unbedingt jeden Tag auf, was Du in der Natur beobachtest. Das ist sehr wichtig: Du lernst Deine Gedanken formulieren, außerdem sammelt sich Material an, das später für Dich nützlich und interessant sein wird. So lernen die Menschen von der Natur“. Naturwissenschaft und Theologie stellten bei Florenski keine Gegensätze dar, sondern ergänzten einander in einem sinnlichen Wirklichkeitsverständnis. Die Zuwendung und Beschäftigung mit den Mysterien des Seins begreift Florenski als ganz konkrete Praxis, die ihre höchste Entfaltung in der Priesterschaft, im religiösen Kult findet. Der Kult bildet somit für Florenski kein bloßes kulturelles Anhängsel oder gar Überbleibsel einer Zivilisation, sondern ist Ursache, Grund und differenziertester Ausdruck jeglichen menschlichen Seins überhaupt. Leben, Tod und Auferstehung fallen im Kult zusammen, Existenz und Zeitlichkeit greifen ineinander.
Immer wieder folgen in den Briefen aus dem Lager Leseempfehlungen und wiederholt sieht sich der besorgte Vater veranlasst, seinen Kindern zum Musikunterricht zuzureden. Er äußert den Wunsch an die Kinder, „daß ihr Menschen werdet, die mit den Gaben der Kultur etwas anzufangen wissen“. Aus Gründen der Zensur erwähnt der orthodoxe Priester Florenski weder Gott noch von ihm verehrte Heilige. Seine Frau bittet er dafür Sorge zu tragen, daß bei den Kindern „Klarheit und Ruhe in ihrer Seele“ seien. Seine eigene Mühsal spart Florenski weitgehend aus, er hadert lediglich mit sich, daß seine Familie wegen ihm leiden muß. Und wie ein Vermächtnis klingt es, wenn Florenski schreibt: „Unsere Aufgabe ist es, Sorgen und Unruhe auf uns zu nehmen. Denn die Lebensaufgabe besteht nicht darin, ohne Unruhe sein Leben zu verbringen, sondern darin, würdig zu leben und kein Nichtsnutz für sein Land zu sein“.
Florenski hat mit seinem Leben diese Worte beherzigt und einen hohen Preis dafür bezahlt. Am 08. Dezember 1937 wurde Pawel Florenski bei Leningrad wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ erschossen. Eine offizielle Sterbeurkunde erhielten seine Nachkommen erst am 24. November 1989, in den Jahren von Michail Gorbatschows »Perestrojka«. Daß diese politische Phase im heutigen Russland als Zeiten der „Schwäche“ oder gar des „Verrats am Vaterlande“ gewertet wird, spricht für sich.
Mit „Eis und Algen“ liegt ein zeitloses Dokument vor, dessen aufregende Lektüre nicht zuletzt den kundigen Übersetzern zu verdanken ist. Michael Hagemeister sowie Fritz und Sieglinde Mierau haben bereits in anderen Beiträgen und Herausgaben zu Leben und Werk Pawel Florenskis in differenzierter Weise auf diesen außergewöhnlichen Denker aufmerksam gemacht.
Anm. der Redaktion: Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich
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