Matt vom Küssen
Mit Peter von Matts Büchern hat man stets beides, Erkenntnis und Vergnügen. So auch beim neuen Text, einem Großessay zu Küssen, sieben an der Zahl, die als Abgrund oder Hoffnung in der Literatur geschildert eine Ahnung davon geben, was Liebe und was der Mensch sei. Dabei ist die erste Beobachtung, daß Glück und Unglück einander verbunden sind, so man sie denkt:
„Das Wissen vom Glück bringt das Gegenteil hervor. Das einzige Lebewesen auf dem Planeten, das vom Glück weiß, trägt diese Erkenntnis mit sich herum wie ein Messer in der Brust.”
Dabei seien beide, Glück und Unglück, keine Begriffe, wo die Literatur sich ihrer annehme:
„Weil die Literatur immer konkret ist, denkt sie nicht in Begriffen, sondern in Szenen. Das Wissen vom Glück erscheint daher in der Literatur immer und immer wieder als die leibhaftige Begegnung zweier Menschen.”
Insofern beginnt das Unglück noch als Glück: Begegnung, immerhin. Und doch ist das Glück Exposition mehr denn Erfüllung, man könnte hier auch auf Badious wunderbares Lob der Liebe hinweisen 1.
Und der Kuß? – Ephemer, Krise, beides, schon Glück, fast schon Unglück, jedenfalls kein Versprechen:
„Auch das unbedingte Glück erscheint in der Literatur zumeist als eine Szene, und in tausend Fällen gehört zu dieser Szene der Kuss. Dabei ist Küssen ein Allerweltsgeschäft. Wäre mit jedem Kuss das unbedingte Glück verbunden, lebte die Menschheit im Paradies.”
Dabei gibt es den seriellen Kuß, den singulären, den ... Peter von Matt systematisiert eindrucksvoll, was es an Kußkontakten gibt und geben könnte. Von den schönsten bis zu jenen, worin der „Kuss als tödlicher Bann” nicht ganz so hübsch sein mag.
Auf dem Umweg übers Küssen gelingt es Peter von Matt so, jedenfalls vieles der conditio humana und der Literaturgeschichte zugleich vorzutragen. Und zu zeigen, daß beide nicht parallel verlaufen, daß das Grobe sich textuell versöhnen lasse, bei Kleist, wem sonst, „Vergewaltigung und Versöhnung” einander nicht ausschließen; oder: daß das Komische ergreifend werden könne:
„Man merkt beim Lesen gar nicht, wie komisch das ist. Das Ergreifende scheint den derben Slapstick zu verschlucken. Der alte Mann berichtet alles in einer Sprache, die so kindlich ist wie seine Seele, obwohl das Bild vom Versteckspiel der Engel Shakespearsche Qualitäten hat und an die Vorstellungen vom tönenden Kosmos und vom Tanz der Gestirne rührt. Der Schlag von dieser Hand, im Augenblick des Zusammenklangs der Seelen im Lied, bewirkt keine Ernüchterung, wie man erwarten würde, sondern steigert Jakobs Ekstase. Was geschieht, ist das genaue Gegenteil zur tödlichen Gefühllosigkeit, die ihn immerzu bedroht, zu jenem Fluch, »nicht traurig und nicht froh« zu sein.”
Wer Literatur so paraphrasiert, wie Peter von Matt hier Grillparzer, ist der Literaturwissenschaftler oder Literat? Beides, wobei der erstere konzediert, was der zweite nicht sagen muß, etwa, wieviel Illusion bleibe, zum Beispiel: „Die Illusion liegt in der Dauer.” Auch, weil Bücher dann schließen können, wenn’s am schönsten ist – oder außerhalb der Bücher eben wäre.
Ein feiner, anregender Band, bei dem die Frage sich nicht stellt, ob auch Peter von Matt geküßt worden ist, nämlich: von der Muse.
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben