Tante Lucis scharfer Pudding
Die Kumpels staunen nicht schlecht: sie werden von ihrem Saufkumpan nach Irland eingeladen zu Guinness und Whiskey. Doch als sie die Gläser heben, ist in seinem Leitungswasser! Sie fühlen sich verschaukelt und als der bei seinem Wasser bleibt, verziehen sie sich: So macht doch Saufen keinen Spaß!
Was wie ein seltsamer Scherz klingt, ist Teil einer ungewöhnlichen Therapie. Peter Wawerzinek war fünf Jahre in individueller Trinker-Behandlung. In seinem Roman „Schluckspecht“ hat er beides niedergeschrieben, seine Säufer-Karriere und seine wundersame Heilung. Oder soll man in diesem Fall Bekehrung sagen? In einem Fernsehbeitrag erzählt Wawerzinek von dem Wunder. Als Stipendiat in Wewelsfleth schaut er aus dem Fenster seiner Schreiber-Klause auf das Trinkerheim Eulenhof. Eines Tages geht er die wenigen schweren Schritte über die Straße und fragt den Leiter der Einrichtung, ob er ihn ein „bisschen“ heilen könne. Er habe Angst vor dem gar nicht mehr Trinkendürfen. Und der Doktor, der ihm bald ein guter Freund wird, wagt das unglaubliche Experiment, dem Dichter vom Missbrauch zum kontrollierten Trinken zu führen.
Wawerzinek war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Dichter, hatte unter anderem das wunderbare Buch „Das Kind, das ich war“ veröffentlicht, war in der Literaturszene unterwegs. Doch er musste saufen bis zum Absturz. Er begriff, dass das Ich zum Ich-Ich geworden war. Er fotografierte sich im Suff, um halbwegs nüchtern über sein anderes vertrautes und doch fremdes Ich zu staunen, doch losgeworden ist er das zweite Ich erst durch die langjährige Behandlung. Immer noch nicht sicher vor gelegentlichen Abstürzen, bei denen ihn der Doktor begleitet, um die geeignete Therapie zu finden, zum Beispiel die Reise nach Irland, zu der die früheren Trinkbrüder eingeladen werden.
Noch in der Therapie schreibt Wawerzinek das mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnete Buch über seine Mutter-Suche „Rabenliebe“. Er hat es geschafft, er kehrte ins literarische Leben zurück. Und nun, vier Jahre später folgt der „Schluckspecht“.
In dem Haushalt von Tante Luci und Onkelonkel steht ein solcher Schluckspecht, ein Vogelkopf aus Filz auf einer in einen kugelrunden Bauch mündenden Glasröhre. Der Vogel fällt in seiner Kippvorrichtung nach vorn, „trinkt“, um dann zurückzuwippen. Der Ich-Erzähler als Kind findet dieses Ding lustig und versteht Tante Lucis Warnungen nicht: „Werd mir nur kein Schluckspecht.“ Tante Luci trinkt selbst „ein bisschen“ Eierlikör oder Rumtopf. Onkelonkel gar säuft und sitzt teilnahmslos am Küchentisch, beschimpft von seiner Frau. Das Kind ist umgeben von der bunten Welt des Alkohols, von alkoholgetränkten Puddingschalen, von den Früchten des Rumtopfs, von den Resten des vergangenen feuchtfröhlichen Abends, die er nicht verkommen lassen möchte. Bis sich die Tischbeine verbiegen, die Wanduhr zum Spiegelei wird und in seinem Bett ein Theaterstück aufgeführt wird, das Bett selbst als Drehbühne. Die Beschreibungen des alkoholgetränkten Haushalts machen den Leser betrunken, denn Wawerzineks Text gerät selbst zum Gesang, wie bei der Beschreibung der Rumtopfzubereitung: „Und werfen zu den Erdbeeren die Sauerkirschen. Und schnippeln schnalzend die Birne hinzu. Die Weintrauben. Die Pflaumen entkernt und geviertelt. Die Himbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren. (…) Sie holen die Früchte zu sich ins Heim. Sie pferchen sie in solch einen Topf. Beschütten sie mit Zucker. Lassen sie Saft ziehen, bevor sie sie zu den anderen armen Gefangenen in den Topf sperren.“
Dennoch ist dieser Haushalt ein Hort köstlichster Lebensweisheiten, beide Erwachsenen so schrullig, dabei voller Herzenswärme, als schreibe sich der zwischen Kinderheimen und Adoptiveltern herumgestoßene Wawerzinek eine schöne heile Kinderwelt. Die nur einen kleinen Schönheitsfehler hat. Später findet er einen Freund, dessen Freiräume durch keinerlei elterliche Aufsicht oder Erziehung eingeschränkt werden, da lässt sichs munter weiter saufen, zumal der Vater des Freundes eine Mosterei betreibt, in der viel Obstwein herumsteht. Die erste große Liebe des Erzählers wird Johanna, die „Schwarze Johanna“, die ihn so schön blau macht. Und so weiter. Unzählige Seiten mit immer wieder anderen Saufkumpanen, darunter einer, der auch eine Liebe zu Wörtern hat, ein kleines Porträt des Freundes Andreas „Baader“ Holst? Und als wär das alles noch nicht genug, fängt auch Tante Luci nach dem Tod des Onkelonkel an zu saufen, versucht es vor dem nun erwachsenen „Kind“ zu verbergen, wie er vor ihr verbirgt, dass er säuft und säuft und säuft.
Und eines Tages ist es soweit, Tante Luci sucht den Pflegesohn unangekündigt in der Stadt auf, in der er vorgibt, zu arbeiten und findet ihn in einer zugemüllten Wohnung voller leerer Flaschen zwischen Erbrochenem völlig fertig, völlig zu. Und Tante Luci: „Sag nichts Junge. Bleib liegen Junge. Die Tante reißt dich da raus.“
Sie bringt ihn zu einem alten Jugendfreund, der Trinker heilt. Später kommt sie auch hinzu und wird manisch Fahrrad fahren und schließlich das Dichterhaus am Ort betreuen. Für Luci gibt es ein reales Vorbild: Hannelore Kayn, die das Dichterhaus in Wewelsfleth leitete und der Wawerzinek den „Schluckspecht“ posthum gewidmet hat.
Wawerzinek erzählt seine Geschichte hochverdichtet ausufernd poetisch, ein langer Gesang auf den Alkohol mit einem nur leicht variierten Refrain, sicher keine leichte Kost für selbst dem Alkohol Verfallene oder die, die es erfolglos probiert haben, ihr zweites Ich loszuwerden mit fürchterlichen Medikamenten oder in kirchlichen Einrichtungen, in denen versucht wird mit Gott dem Beelzebub Alkohol beizukommen. Eine Anregung möglicherweise für Therapeuten oder vielleicht doch eher ein Ärgernis: fünf Jahre Therapie, um weniger zu trinken? Wer soll das bezahlen? Doch für dieses Buch zählt, einer hat es geschafft auf wunderbare Weise und er kann zurückschauen, mitleidslos auf sich selbst und sich dennoch nicht verdammen. In seinem Dank erwähnt Wawerzinek nicht nur viele seiner Trinkbrüder, auch die beiden Irlandfahrer, zahlreiche Kneipen, sondern auch das Wewelsflether Team um „seinen“ Doktor, der nun möglicherweise neuen Zulauf bekommen wird.
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