Die langen Schatten der Fehler und Fragen
[…] ich weiß nur, dass du nichts verstehen wirst, wenn du nicht weißt, warum die Menschen, um die es hier geht, so geworden sind und nicht anders.
Es beginnt mit einem Brief, einem Brief, den ein Vater an seinen Sohn schreibt. Der Sohn soll ihn erst bekommen, wenn er im selben Alter wie der Schreibende ist: 40 Jahre alt.
Der Initialmoment für den Brief ist die Urne mit der Asche der Mutter (bzw. Großmutter für den Angeschriebenen), die in der Post verlorengegangen ist. Unauffindbar, so scheint es. Doch das ist nur einer von vielen Initialmomenten, die in er folgenden Generationengeschichte aufgeschlagen und hinter den Lebensentwürfen, den Hoffnungen und Schicksalsschlägen, hervorgezogen werden. Wollte man es vereinfachen, würde man sagen: „Bei Sturm am Meer“ ist eine Geschichte der Initialmomente, der Wendepunkte, und ihrer langen Schatten, die manchmal sogar über das eigene Leben hinausreichen.
Ich springe hin und her in diesem Bericht, ich kann dem, was ich schreibe, keine Ordnung aufdrücken, folge den Erinnerungen und Ereignissen, die mich herumjagen.
In der Tat ist das Buch sehr sprunghaft und inkonsequent in seiner Perspektive, seinem Aufgreifen von Handlungsfäden und es hält sich beim Erzählen nicht an die Chronologie der Ereignisse. Manchmal stellt es sich urplötzlich auf die Schulter von Figuren, die wir bis dahin nur aus der Erzählung eines anderen kannten oder es werden Episoden erzählt, von denen der eigentliche Erzähler nichts wissen kann. Die Briefform wird immer wieder aufgegriffen, aber eher unsystematisch. Man wird jedoch zu keinem Zeitpunkt von dieser Sprunghaftigkeit wirklich aus der Bahn geworfen. Vielmehr wird dadurch das Geflecht deutlich, in dem wir uns bewegen und in dem sich die Figuren ihr Leben lang bewegt haben: zwischen der Vergangenheit und der ungewissen, immer schmaler werdenden Zukunft. Zwischen den Erwartungen der anderen und dem eigenen, unerforschten Verlangen.
Alles beginnt (in der Chronologie) mit der Schwangerschaft einer Frau mitten im 2. Weltkrieg. Sie will nicht mit dem Mann zusammenleben, der sie geschwängert hat und zieht es vor, kurz darauf einen wohlhabenden holländischen Geschäftsmann zu heiraten und mit ihm in die Niederlande zu ziehen, nach Amsterdam. Dort ist man, wegen den Gräueltaten der Nazis, nicht besonders gut auf Deutsche zu sprechen und die lebenslustige, junge Frau hat wenig Gelegenheit ihr Temperament auszuleben. Ihre Tochter wächst heran und der Generationskonflikt zwischen ihr und der Mutter wird durch das Unausgelebte bestimmt, das die Mutter in das Leben und das Umfeld ihrer Tochter hineinträgt. Die Tochter bricht aus und geht zurück nach Deutschland, wo sie in den großtuerischen, wilden Zeiten der Studentenproteste einen charismatischen Marxisten und freiheitsverliebten Kämpfer für die Revolution kennenlernt. Aus dieser Verbindung entsteht der Schreiber des Briefes. Einige Jahre später verschwindet der Vater in Südamerika, als er einen ansässigen Rebellenanführer interviewen will und wird kurz darauf von seiner Frau für Tod erklärt. Eine Geschichte, die noch nicht ganz zu Ende erzählt ist.
Drei Generationen, drei einzelne Schicksal, auf die der Autor dennoch geschickt das Angesicht einer Familie legt. Es gibt einen roten Faden zwischen den Dreien, über den sich Hoffnungen übertragen, von einer Generation auf die nächste, aber auch abschreckende Hindernisse, die bestimmte Bereiche unzugänglich machen. Der Fokus liegt stark auf den Figuren, ihren Beziehungen zueinander, ihren zentralen Konflikten mit sich selbst und den anderen. Viele Szenen werden nicht ausgemalt – der Leser bekommt kaum etwas mit von den Studentenprotesten, dem südamerikanischen Bürgerkrieg, der Amsterdamer Aufarbeitung der Nazizeit. Sie werden alle nur dort angespielt, wo sie eine der Figuren unmittelbar betreffen. Das hat etwas Bodenständiges, manchmal auch Verengtes, erschafft aber letztlich eine bestechende Dichte und Nähe in Bezug auf die Familienwirklichkeit, die Persönlichkeiten und Beschränktheiten der einzelnen Charaktere.
Es ist seltsam mit persönlichen Dingen. Sie leben nur, solange man mit ihnen lebt. Lässt man sie allein, verändern sie sich, sie verblassen und trocknen ein wie altes Stroh und ziehen sich in sich selbst zurück, werden wirklich zu toten Gegenständen, die erst langsam und über lange Zeit wiederbelebt werden müssen, so wie man die Kälte im Winter aus einer Wohnung vertreiben muss, die man lange nicht betreten hat, und die nicht nur in den Mauern steckt, sondern in jedem Gegenstand.
Ich kannte Philip Blom bisher nur als Autor der beiden grandiosen historischen Werke „Der taumelnde Kontinent“ und „Die zerrissenen Jahre“ in denen er anhand von einzelnen gesellschaftlichen, künstlerischen und politischen Ereignissen und Umwälzungen, die Atmosphären und das Lebensgefühl in den Jahren zwischen 1900-1914 bzw. 1919-1938 beschreibt. Diese Bücher haben mich wegen ihrer erzählerischen Bögen beeindruckt und auch in ihrem teilweise entlarvenden Charakter.
In diesem Debüt-Roman stellt er eine Frage in den Raum; eine Frage, die zwischen Jugend und Alter, Zugehörigkeit und Erfüllung, Vergebung und Groll pendelt: War es damals schon zu spät, endlich das Leben zu beginnen, auf das man gewartet hatte? Eine Frage, vor der die drei Hauptfiguren alle einmal stehen – und ihr Umgang damit fällt sehr unterschiedlich aus und doch entkommen sie ihren Gespenstern. Es gibt Parallelen, verbindende Elemente in ihren Leben, die sie oft gar nicht kennen. Doch hinter all dem wird (neben der Willkürlichkeit des Daseins) vor allem die Schwierigkeit deutlich, auszubrechen aus seiner Familiengeschichte, nicht dieselben Fehler zu machen wie die unglücklichen Eltern, aber auch nicht zu unterschätzen, wie sehr manche Menschen am Glück eines anderen teilzuhaben glauben oder ohne ihn nicht glücklich sein können.
Ereignisse versetzen uns Stöße und nichts ist letztlich logischer als die Bahn einer Billardkugel, die über den Tisch rollt und irgendwann in ein Loch fällt. Es ist im Nachhinein verführerisch, die meisten Leben als klare Abfolge von bestimmten Handlungen zu betrachten, eine Kette, die von jemandem in einer klaren Absicht und einer klaren Reihenfolge geschmiedet wurde. Aber so ist es ja nie und wenn Philip Bloms Buch eines leistet, dann ist es dies: in erzählerischen Bögen aufzugreifen, wie sehr ein Leben im Rückblick als Abfolge erscheinen mag, wie zerreißend und offen es aber in dem Moment ist, wo man es lebt.
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