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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Der letzte Vollhorst

Zwei Stimmen über Philipp Winklers „Hool“, Teil 2: Ein kunstvoll schnoddriger Debütroman von Fußballfans, Schlägereien und Familien auf der Buchpreis-Shortlist
Hamburg

Heiko ist ein zarter, ein zärtlicher junger Mann. Er wohnt bei einem Freund auf einem Gehöft bei Wunstorf und füttert manchmal dessen Hunde und seinen Vogel, er füttert auch die Tauben seines Vaters Hans, als der ins Krankenhaus muss. Seine Freundin Yvonne hat ihn verlassen, aber er hat noch ihren Wohnungsschlüssel. Ein ganz normaler junger Erwachsener, manchmal nachdenklich, manchmal enttäuscht von seinen Freunden, manchmal wütend. Ein Fußballfan. Hannover 96 natürlich, weil er aus Hannover kommt. Ganz normal also.

Naja, ein nicht ganz so normales Hobby hat er doch: Er trifft sich gern mit seinen Freunden und ein paar Kumpels und einigen Fußballfans aus anderen Städten, um sich zu prügeln. Am liebsten mit denen aus Braunschweig, das ist sowas wie der Erbfeind von Hannover 96. "Match" heißt so eine organisierte Prügelei, die über das Telefon verabredet wird und in denen schon mal was bricht und blutet:

Ab dem Moment, in dem meine Faust seine Drecksfresse erreicht und ich Knochen und Zähne unter meinen Knöcheln nachgeben spüre, verschwimmt alles zu einem Wust aus Geräuschen und Bildern. Der Geschmack von Blut unter meiner Zunge und wie es herausspritzt, wenn ich schreie. (...) Blutverkleistertes, kehliges Würgen und rotwurzelige Zähne, die ausgehustet werden.

Auch sein Freund Arnim, bei dem er wohnt, ist ein bisschen aus der Normalität gefallen: Er veranstaltet nächtliche Tierkämpfe auf seinem Hof, der Vogel in seinem einen Zimmer ist ein riesiger Bartgeier, der auf seinem Sessel hockt, und einmal braucht er Heikos Hilfe, weil er einen ausgewachsenen Tiger kauft, an der polnischen Grenze holt er ihn ab, die Verkäufer schenken ihm noch ein Betäubungsgewehr mit Munition. Vorher hatte er mit Heiko eine vier Meter tiefe Grube ausgeschachtet und mit Alublech ausgekleidet, in die der Tiger kommt.

Aber diese proll-artigen Szenen von Hooligans, die Schlägereien – das sind nicht die wirklichen Themen in Philipp Winklers Debütroman "Hool". Wichtiger als die Brutalität und Gewaltbereitschaft, die viele Leser vielleicht von vornherein abschrecken werden, ist Heikos zerrissene Persönlichkeit, die von zwei Dingen geprägt ist: von seiner Freundschaft mit Kai, Ulf und Jojo, wie er 96-Fans und bei den Schlägereien dabei, und von seiner heillosen Familiengeschichte: Sein Vater ist Alkoholiker, frühverrentet, und hat sich aus Thailand eine Frau mitgebracht, Mie, die der 14-jährige Heiko nicht akzeptiert. Seine Mutter hat die Familie verlassen, als er noch ein Junge war:

Ein Mann war dabei, die Taschen vom Treppenabsatz vor der Haustür zu nehmen und zum Auto zu tragen. Sie griff an die Tür, winkte noch mal. Warf mir einen Kuss zu. Dann machte sie zu. Ich hörte Autotüren zuschlagen und wie das Auto wegfuhr. Ich stand in der Diele und fror.

Den Vater verachtet er, nur widerwillig besucht er ihn im Krankenhaus, sucht ihn in der Nacht, als er mal aus der Kurklinik verschwindet, wo er einen Entzug macht. Auch mit seiner älteren Schwester Manuela hat Heiko kein gutes Verhältnis.

Erst nach und nach ändern sich die Beziehungen: Heiko erinnert sich, wie sich Manuela liebevoll um ihn gekümmert und ihn versorgt hat, nachdem die Mutter verschwunden war. Er erinnert sich auch, wie ihn sein Vater zu seinem ersten Spiel ins Stadion mitgenommen hat, gegen Meppen, und dadurch fühlte er sich schon als Mann. Und auch mit Mie findet er ein normales, wenn auch distanziertes Verhältnis. Dazwischen steht eine der ungewöhnlichsten, zarten Liebesszenen der deutschen Literatur, ganz unauffällig mittendrin. Denn manchmal steht er vor dem Haus seiner Exfreundin Yvonne, und einmal geht er nachts in ihre Wohnung, als sie schläft. Er betrachtet sie, schaut sich in der Wohnung um und geht dann leise wieder, ohne sie aufzuwecken. Und legt den Zweitschlüssel in die Schale im Flur.

Aber seine eigentliche Familie, das sind Ulf, Kai und Jojo. Mit ihnen geht er nicht nur zu Fußballspielen und Schlägereien, mit ihnen geht er auch regelmäßig auf den Friedhof und besucht das Grab von Jojos Bruder Joel, dem aufsteigenden Star und Dribbelkönig von Hannover 96, der mit 17 gestorben ist. Da stehen sie dann und schweigen miteinander. Einer von ihnen muss sich dann als erster umdrehen und gehen.

Diesmal bin ich es, der sich zuerst vom Grab entfernt. Es benötigt unglaubliche Überwindung, der Erste zu sein. Man möchte nicht so rüberkommen, als wolle man das Ganze nur schnell hinter sich bringen. Ich kann diese Last aber nicht nur Kai und Ulf überlassen.

Aber dann bricht seine Ersatzfamilie schon auseinander: Mit seinem Onkel, der grauen Eminenz der Hannoveraner Hooligans, der eine Muckibude leitet und mit Drogen handelt, hat sich Heiko zerstritten, weil der auch Neonazis zu den Schlägereien mitnimmt, und gegen die "Natzen" haben die Jungs so viel, dass sie einen einmal aus ihrer Stammkneipe prügeln. Kai studiert BWL und will für die Deutsche Bank nach London, Jojo trainiert jetzt die A-Jugend und will keinen Alkohol mehr trinken, und Ulf hat eine Frau und einen gestrichenen Gartenzaun. Nach und nach steigen sie alle aus. Vor allem, als bei einem Treffen in Braunschweig Kai überfallen und so stark zusammengeschlagen wird, dass er ins Krankenhaus muss und man fürchtet, dass er blind bleibt. Und Heikos Freund Arnim verschwindet eines nachts, nachdem sein Haus von Osteuropäern überfallen wurde - Heiko konnte sich grade noch verstecken. Und findet ein paar Tage später Kleidungsfetzen in der Tigergrube. Und Heiko stellt fest:

'Ihr habt alle irgendwas, worauf ihr euch am Ende des Tages freuen könnt. Ich habe Null.' Ich forme mit den Fingern einen Kreis. 'Nichts. Das hier habe ich. Mehr nicht. Ich beschwer mich nicht darüber. Und weißt du, warum? Weil ich für all das hier lebe. Wenn du das nicht raffst, dann kann ich dir auch nich' mehr helfen. Dann war alles, all die Jahre, nur ein Scheißspiel für dich.'

Philipp Winklers Debütroman steht auf der Kurzliste des diesjährigen Buchpreises. Ganz zu recht, denn auch, wenn nicht alle Fäden entwirrt werden und nicht immer die Sprache ganz sattelfest ist, ist sein Roman auf mehreren Ebenen preiswürdig. Nicht nur, weil er uns einen Einblick in eine Szene gibt, die die meisten Leser nicht kennen werden; nicht nur, weil er gegen die Vorurteile schreibt, die wir über diese Szene haben, eben weil wir sie nicht kennen; sondern vor allem, weil er diese Geschichte um einen sensiblen Schläger in einer kurzen und harten, oft kunstvoll schnoddrig komponierten Sprache schreibt, deren entfernter Stammvater Arno Schmidt gewesen ist, eine Sprache, die versucht, das Gesprochene teilweise nachzuschreiben:

Wie solls schon gelaufen sein? Weil ich der letzte Vollhorst bin, hätt' ich mich beinah an der Tür schon verraten und musste mir im Klo den Finger in' Hals stecken, um 'ne schauspielerische Meisterleistung abzuliefern.

heißt es da, oder:

Nehm' wir mal an, ich würd dich aufn Frischgezapftes einladen. Wo würden wir da hingehen?

oder

Wadde mal.

Oder

Er is’ jetze Trainer bei’n Fußball hier.

Zudem ist Winklers Roman durchzogen von Rückblenden, in denen der Protagonist von seiner Vergangenheit erzählt, von Erinnerungen an seinen Opa, an Vater und Mutter, an die langsam entstehende Freundschaft mit den anderen Jungs. Auch das ist sehr kunstvoll, sicher und passend arrangiert, so dass sich der Roman nach und nach in eine klare, bittere Studie über leider wohl übliche Familienverhältnisse verwandelt: In eine psychosoziale Anamnese eines Familiensystems, in dem die Beziehungsmuster durch die Generationen weitergegeben werden. Und langsam kommt man dem auf die Spur. Und Heiko sich selbst auch.

 

Buchtrailer: Philipp Winkler - Hool from Aufbau Verlag on Vimeo.

 

Philipp Winkler
Hool
Aufbau Verlag
2016 · 310 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-351-03645-4

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