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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Himmel in Fetzen

Hamburg

„Aus den Gedärmen oder anderen Organen“ entsprang die Automatische Dichtung des DADA. Das Entsprungene war schon zu Zeiten von Hans Arp, Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck Halbverdautes oder schwer zu Verdauendes. Aber wer sagt, dass die Rezeption von DADA über den Verdauungskanal zu geschehen habe. Da kommt man ja ganz schnell auf Abwege, wenn das zu Ende gedacht ist. Nein, die Aufnahme dieser Textfabrikate erfolgt auf anderen Wegen. Über die Haarspitzen vielleicht oder über abgekaute Fingernägel, über Gänsehaut oder direkt durch den Bauchnabel. Denn wer sich dem Doppelheft der Grazer Literaturzeitschrift 86/87 mit kühlem Verstand und gespitzten Bleistift nähert, ist zum Scheitern verurteilt. Die Nuss ist so nicht zu knacken! Die ersten drei Worte: Nonotorial, outofarea, dada-transporti. Und beim Durchblättern: Zersprengte Sätze und Worte, ZeilenohneLeerzeichen, Spiel mit Schrifttypen und Sonderzeichen und die allgegenwärtige Kleinschreibung – im Heft auch orthografische Exzentrizitäten attributiert – machen das Lesen zur harten Arbeit. Wer also diese Stacheln ignoriert, bereit ist, sich jeder Konvention zu entledigen, Haarspitzen, Gänsehaut, Bauchnabel und abgeknabberte Fingernägel auf Sendung stellt, der wird reich belohnt! Da gibt es die Ausgrabung von Gemeinschaftswerken der DADA-Altmeister Arp, Serner, Tzara – sagenhafte hundert Jahre alt – deren englische Übersetzung Mark Kanak im Heft mitgibt. Es handelt sich um einen im Züricher Café de la Terrasse gemeinschaftlich geschriebenen Zyklus: Die Hyperbel vom Krokodilcoiffeur und dem Spazierstock. Darin heißt es:

der gute vater senket
ins haupt den tomahwak
die mutter ruft vollendet
zum letzten mal ihr quak
die kinder zieen reigend
hinein ins abendrot
der vater steigt verneigend
in ein kanonenboot

Die Enkel und Urenkel des DADA, die sich bescheiden Textarbeiter nennen, werfen sich voller Lust in die Materie und singen Lieder die DADA sind. Anke Finger nimmt eine amerikanische Zeitung und richtet sich nach der Anleitung Tristan Tzaras von 1920: To make a dadaist Poem: Artikel nehmen, die Sätze zerschnippeln, das Ganze sanft schütteln, die Worte in der Reihenfolge, wie sie kommen, nebeneinanderlegen usw. Finger bastelt ihr Poem aus Zitaten von Donald Trump, Hillary Clinton und aus dem DADA-Manifest von Hugo Ball.

I will be the greatest jobs president God ever created.

Trump als fleischgewordenes DADA. Was ihm an Selbstironie fehlt, schafft Finger durch die Mixtur. Das DADA des 21. Jahrhunderts ist damit keine pure Nachahmung. Politische Haltung durchzieht fast alle Texte. Robert Steinle nimmt sich des derzeitigen Themas Nr. 1 an: Flüchtlingswelle reist nicht ab heißt sein Text, der wie somnambul dahinfließt und voller spitzer Hindernisse ist.

aber was tun, hergegondelt durch dritte staaten auf schmalen stegen in eine strange new world. sprach e problem, da sind sich alle einig, aber nicht ganz im klaren, wer wann eins hat. in dieser frage weiß, so scheint es, der linke rand nicht, was der rechte tut

D. Holland-Moritz nimmt sich des neuen Faschismus mit den entsprechenden Strömungen in den verschiedenen Ländern Europas an. Zuviel Dreck in unserem Kopf. Krank ist unser Kopf. Unser kranker Kopf ist jetzt Europa! Mit dem Resümee:

Beim Glockenschlag war´s zwei nach zwölf.

Wem das zu holzhammerig ist, blättert zu Evelyn Schalk, wo es heißt:

regen der senkrecht fällt. noch.

Selbstreflektierendes ist angenehmerweise wenig zu finden. DaDaSophin hat sich bei Literaturport die Ausschreibungen für Aufenthaltsstipendien angesehen und zu einem Text zusammengestellt, das mag einen potentiellen Bewerber aufregen, was für seltsame Bedingungen gestellt werden, aber sonst fehlt die Idee. DADA ist mehr. Das zeigt die Mehrzahl der Beiträge im Perspektivenheft. Stefan Schmitzers Fabrikat Vergessene Lieder sind kommentierte Manuskriptseiten. Er hat seine alte Schreibmaschine hervor gekramt, das Schriftbild ein geradezu rührender Anblick. Die Leselust wird hier – optisch, wie gesagt erst mal Rührung hervorrufend – zur kognitiven Folter. Handschriftliche, schwer lesbare, Kommentare verwehren zusätzlich den Zugang. Da freut man sich an dem  Kommentar zu viel zu Mäh-Taff und grübelt: Methapher? Oder Metaphysik?

es grast die häuserherde nah am fluß
am promenadenufer. ma sehen wenn sich
alles dreht was es dann wegschwemmt d
ortn. die eine oder andere amsel nich
twahr fräullein schafft den abflug ab
sprungflut.

Gymnastik im Kopf? Oder Handstand. Braucht man Grazer Blut in den Adern? Oder einfach mal die Augen zusammenkneifen? Ja, das geht. Schmitzer gibt im Lied selbst den Tipp:

  ...  gesungen ni
cht vom rühmkorf-peterle, sondern von
ernst buschl

Man möchte ihn selbst mal zum „REALEXISTIERENDEN Kapidings“ „singen“ hören. DADA ist Musik und lebt vom Vortrag. Dies im geschriebenen Text zu hören, erfordert vom Leser schon einiges. Doch das lesende Ohr in Gang zu setzen lohnt sich. Das Sprachzerbrechen und –Neuzusammensetzen der Grazer zeitgenössischen Literaten ist eine Synthese aus Hören, Sprechen und Schreiben und auch Sehen, Selbstironie eingeschlossen:

ich lese manchmal öffentlich
nehme die drei verständlichen gedichte heraus

heißt es in outofarea – out of area, dem Nonotorial zum Heft. Fragt sich, werden die drei verständlichen Gedichte gelesen oder nicht gelesen?

skeptischer fährmann zwischen dem ungesagten und dem unsagbaren

Der Satz ist Perspektiven-Programm und doch unerwartet gaaaanz verständlich. Bei einem der Ur-DADA-isten , bei Richard Huelsenbeck klingt das so:

Der Himmel springt in Baumwollfetzen auf.

Am Heft beteiligte Autor_innen: Sylvia Egger, Anke Finger, Flamingo, Gerhard Fuchs, Lütfiye Güzel, D. Holland-Moritz, Mark Kanak, Ralf  B. Korte, Tanja Peball, Vincent Sauer, Evelyn Schalk, Stefan Schmitzer, Rolf Schönlau, Robert Steinle, Nora Tunkel, P. P. Wiplinger

Ralf B. Korte (Hg.) · Silvia Stecher (Hg.)
perspektive 86/87
perspektive
2016 · 10,00 Euro
ISSN:
1021-9242

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