Von einem, der auszog, die Welt zu verstehen
Wäre „Kronhardt“ ein italienischer Roman, würde man seinen Protagonisten Willem vielleicht als einen inetto bezeichnen und ihn mit Italo Svevos Zeno Cosini in eine Reihe stellen. Denn für das normale bürgerliche, d. h. in Willems Fall kaufmännische Leben, das von ihm als Erben einer Maschinenstickerei erwartet wird, taugt Willem nicht. „Vielleicht solltest du weniger auf dem Sofa liegen“, sagt eine Freundin zu ihm, worauf er antwortet: „Das kriege ich nicht hin.“ Aber während den italienischen inetti ihre Unfähigkeit im praktischen Leben zu bestehen, in die Wiege gelegt wurde, verweigert sich Willem Kronhardt bewusst. Mit Mutter und Stiefvater in seinem Bremer Elternhaus aufgewachsen, in dem trotz demokratischer Äußerlichkeiten die Nazizeit ihre Spuren hinterlassen hat und eines der Lieblingswörter des Stiefvaters „entartet“ist, entwickelt der junge Willem bald Methoden, sich seine Freiräume zu schaffen. Er ist ein guter Schüler, hilft im Betrieb, gibt sich angepasst, kurz, er erfüllt zielstrebig alle Anforderungen, um als Belohnung im Gegenzug machen zum können, was er will. Dann treibt er sich am Fluss, in Wäldern oder auch in der Bücherei herum, entwickelt Wissensdurst und Alternativen zu den Anforderungen des Alltags.
Willems Vorstellungen von der Welt sind von seinem verstorbenen Vater, einem Maler und Nazigegner, bestimmt, der seinem Sohn beigebracht hat, das wirkliche Leben in der Natur und ihren Gesetzen zu suchen. Und während er mit dem Stiefvater aufgespießte Schmetterlinge betrachtet, stellt er sich die Tiere „im Flug vor über Heide und Moor.“ Der Vater starb unter mysteriösen Umständen und mit Willem bezweifelt auch der Leser von Anfang an, dass bei dem Tod alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
Der Roman setzt nach dem Krieg ein, als es in Bremen noch Bombentrichter gibt, man aber schon Coca Cola und Florida Boy trinkt und die Frauen sich noch nicht die Achselhaare wegrasieren. Am Ende der Handlung ist Obama amerikanischer Präsident. Dazwischen wird der Leser zu einer Zeitreise eingeladen, die alle wichtigen Stationen der Bundesrepublik und später des vereinigten Deutschlands beschreibt. Dabei begegnen wir mit Willem dem gesamten Spektrum der Bevölkerung, von der feinen Bremer Gesellschaft bis zu linken Studenten, die sich „mit dem „Wassermannzeitalter“ auskennen, und wir lesen über Wirtschaftswunder und Globalisierung des Handels.
Unzählige Kleinigkeiten lassen die jeweiligen Zeiten und Milieus lebendig werden. Beiläufig erfährt man, dass Max Schmeling Coca Cola-Vertreter geworden ist oder bei der Betrachtung eines Demonstrationszuges sieht Willem „Jesus- oder Ho-Chi-Minh-Bärte“ und wie „sie Benzsterne abbrachen“.
Die Demonstration verfolgt Willem übrigens von einem Turm aus und diese Perspektive ist für ihn bezeichnend. Sei es in der Studentenbewegung, sei es später als Teilhaber des Familienunternehmens, er beschränkt sich auf die Beobachterrolle, bleibt stets distanziert und überlässt das aktive Handeln anderen. Glücklicherweise übernimmt seine Ehefrau Barbara alle Aufgaben. Sie sprüht vor Unternehmergeist, bringt den Betrieb voran und toleriert gleichzeitig sein Desinteresse für das Geschäftliche. Willem, der nur wegen seiner dominanten Mutter Betriebswirtschaft studiert hat, verbringt die meiste Zeit damit, in seinem „Giebelzimmer“ über Naturphänomene nachzudenken und in der Natur eine gewisse Freiheit und Selbstbestimmtheit zu suchen. Große Teile des Romans sind diesen Streifzügen gewidmet und die zahlreichen Beschreibungen des Bremer Umlandes mit seiner Flusslandschaft sowie die regelmäßige Darstellung des Wetters gehören zu den poetischsten Stellen des Romans. Sie stehen für den Abstand des Helden vom Profitstreben und der Verlogenheit des Alltags: „Die Priele waren Spiegel und die Furchen Fraktale vom Anfang der Zeit. Die gurgelnde Wasserlinie verwischte den Horizont und erschuf dahinter grenzenlosen Raum.“
Dass dem Leser bei mehr als 900 Seiten nicht die Puste ausgeht, ist der Sprachgewalt und Erfindungsgabe des Autors zu verdanken, denn außer den Hauptpersonen werden auch viele Nebenfiguren mit ihren Biografien vorgestellt. Außerdem nimmt die Handlung um Willem und seinen familiären Hintergrund im letzten Drittel noch einmal Fahrt auf. Denn der ungeklärte Tod bleibt ein Stachel in Willems Arrangement mit seiner Situation. Als er einen Hinweis bekommt, sein Vater sei ermordet worden, beauftragt er zwei Detektive, der Sache nachzugehen. Diese äußerst schrägen Typen (sie verkleiden sich ständig) ermitteln gründlich, präsentieren Ergebnisse aber häppchenweise und viele Spuren verlaufen im Sand. Im letzten, kürzesten Teil des Romans kommt dann mit dem Arzt, der seinerzeit den Tod des Vaters manipuliert hat, noch eine Art Forrest-Gump-Figur auf den Plan, die allerdings sehr schlau und anpassungsfähig ist und überall auftaucht, wo in der Weltgeschichte etwas geschieht.
Die Wahrheit über den Tod seines Vaters löst bei Willem eine Blockade und er ist am Ende fähig, dessen Gegenwelt zu sehen. Dafür entführt Dohrmann seinen Helden für kurze Zeit auf eine Reise, in der Raum und Zeit aufgelöst sind. Auf der letzten Seite des Romans bringt der Autor den Protagonisten wieder zu seiner Frau Barbara. Auf dem „Markplatz bleibt Willem beim Roland stehen und legt eine Hand auf den weichen Stein. So wie sein Vater es ihm gezeigt hat, und der Roland steht mit mildem Gesicht, für das Zeit keine Rolle spielt.“
Zeit braucht auch der Leser, wenn er sich auf den Roman einlässt. Er sollte sie sich unbedingt nehmen.
Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben