Grande Jeunesse
Tatsächlich! Zwei Jahre nachdem Die Andere Bibliothek Raymond Roussels Locus Solus wieder auflegte, wagt sich ein weiterer Verlag ein Werk des eigenwilligen französischen Avantgardisten herauszubringen. Mit Chiquenaude und andere Texte aus früher Jugend veröffentlicht der Berliner Kleinverlag zero sharp acht kürzere Prosaarbeiten Roussels, die durch einen Essay seines langjährigen Psychiaters Pierre Janet und ein informatives Nachwort von Übersetzer und Herausgeber Maximillian Gilleßen ergänzt werden. Ergänzungen, die der deutschsprachige Leser auch dringend benötigt, um die Bedeutung dieser Jugendwerke richtig einordnen zu können.
Raymond Roussel, der 1877 in wohlhabenden Verhältnissen geboren wurde, widmete sein Leben fast ausschließlich dem Reisen und der Literatur. Mit 19 Jahren verfasste er in einem Zustand äußerster Ektase ein Versepos mit dem Titel La Doublure. Als der von ihm erwartete Erfolg ausblieb, geriet Roussel in eine schwere Krise, die zu Depressionen führte. Janets Essay Die psychologischen Merkmale der Ekstase schildert eindrucksvoll die „strahlende Glorie“, in deren Licht Roussel sein erstes größeres Werk schrieb. Er beschreibt aber auch deren Verlust durch Vollendung und Veröffentlichung des Werkes und schließlich Roussels lebenslange Versuche diese einmal empfundene Euphorie des Schreibens wiederzufinden.
Eigentlich könnte man glauben, dass die kreative Schaffenskraft eines Künstlers nach einem solchen Erlebnis ganz zum Erliegen kommt. Das bemerkenswerte an Roussel ist jedoch der Ehrgeiz, der ihn trotz seiner schwierigen psychischen Situation antrieb Werke von überzeitlicher Bedeutung zu schaffen. „Ich werde ungeheure Gipfel erreichen und bin zu strahlendem Ruhm geboren. Dies kann dauern, aber mir wird ein Ruhm zuteilwerden, größer als derjenige Victor Hugos oder Napoleons.“ Bescheidenheit war nicht Roussels Stärke, wohl aber sein Wille zur Kunst. Sein Ruhm liegt heute in erster Linie darin begründet, dass er auch über die Grenzen Frankreichs hinaus zu einem der einflussreichsten Ideengeber der Avantgarde wurde. Die Werke Marcel Duchamps oder der Surrealisten sind ohne Roussel undenkbar. Das liegt vor allem am starken Experimentalcharakter, der seine Texte seit dem frühen Misserfolg von La Doublure prägt.
1900 veröffentlichte Roussel mit Chiquenaude seine erste Erzählung, in der das sogenannte „Verfahren“ zur Anwendung kam. Dabei nutze er den Gleichklang ausgewählter Wörter, aus denen er zwei ähnlich lautende Sätze bildete, die inhaltlich jedoch nichts oder nur kaum etwas gemein haben. Im Falle der Titelgeschichte sind das die Sätze: „Les vers de la doublure dans la pièce du Forban talon rouge…“ (Die Verse für die Zweitbesetzung im Stück Der Halunke mit dem roten Absatz sind von mir verfasst worden.) und „Les vers de la doublure dans la pièce du fort pantalon rouge!“ (Die Würmer im Futter des Flickens der unverwüstlichen roten Hose!) In seinem Nachwort erklärt Gilleßen: „Die Aufgabe des Autors besteht darin, den Abstand dieser Differenz zwischen dem Einen und dem Anderen durch die Erfindung einer plausiblen Erzählung, die sie miteinander in Verbindung setzt, zu überbrücken. Dabei meint Plausibilität nicht Wahrscheinlichkeit, sondern die durchgängige rationale Erklärbarkeit aller Ereignisse. Die fertige Erzählung ist, anders gesagt, die Lösung jener ‚Tatsachengleichung‘ (équations des faits), die das Verfahren generiert.“
Aufgrund dieses Verfahrens kommt es bereits in Roussels frühen Texten zu allerhand Ereignissen, Motiven und Erzählstrukturen, die auch die späteren Werke Impressions d’Afrique (1910) und Locus Solus (1914) prägen. Damit sind zum Beispiel Wortspiele gemeint, die außerhalb des „Verfahrens“ stehen und/oder dieses reflektieren. Wie etwa in der Erzählung Unter den Schwarzen, in der eine Gesellschaft sich die Zeit mit einem Rebus-Spiel vertreibt. Oder die ersten, detailreichen Beschreibungen mechanischer Apparaturen, wie in Seiltänzeridylle, wo unter anderem ein „gelehrter Hund“ Kunststücke mit Buntstiften aufführt. „Schließlich hatte ein etwas ungewöhnlicher Gegenstand die ganze Aufmerksamkeit des Publikums auf sich gezogen. Es handelte sich um ein kleines, recht breites, aus Metall gefertigtes Armband, das zu einer Puppe hätte passen können; leicht öffnete und schloss es sich; hatte man es von außen befestigt, diente ein Zylinder mit einer Schraube dazu, einen der Bleistifte aus der Schachtel festzuhalten.“
Besonders auffällig ist jedoch Roussels Vorliebe selbst auf kleinstem Raum eine narrative Vielschichtigkeit zu erzeugen, indem er jede sich bietenden Gelegenheit nutzt, um zahlreiche Rückblenden einzubauen. Die dadurch erzeugte zeitliche Sogwirkung, die einen innerhalb kürzester Zeit immer tiefer in den Text zieht, macht den besonderen Reiz der Texte aus, weil sie nie Selbstzweck, wohl aber raffinierte Spielereien sind, die letztendlich zum Ziel des Textes, nämlich zum zweiten Satz des „Verfahrens“ führen. Damit geht natürlich einher, dass Roussel selbst in den kürzesten Erzählungen eine Vielzahl von Figuren auftreten lässt, die natürlich nie wirklich plastisch werden können, sondern wie skurrile Marionetten über Jahrmärkte, durch Gärten und Theater geführt werden.
Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft weitere Werke Roussels auf Deutsch (wieder-)aufgelegt werden, damit die Erinnerungen an seine experimentelle Schreibweise und die narrativen Fortschritte der Klassischen Moderne frisch bleiben. Mit den kurzen Texten aus Chiquenaude und andere Texte aus früher Jugend gibt es jetzt auch keine Ausreden mehr für den deutschsprachigen Leser, denn sie sind der perfekte Einstieg in Roussels Werk.
Fixpoetry 2014
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Kommentare
Habe es in Leipzig bei ` it´s
Habe es in Leipzig bei ` it´s a book´ entdeckt. Gute und treffende Rezension. Bleibt hinzuzufügen, dass das Buch hervorragend gestaltet ist, anregend bebildert.
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