Die Wissenschaft der Lebenslügen
In „Die Nacht der Physiker“ beleuchtet von Schirach die persönlichen Hintergründe, der an der deutschen Atombombenforschung beteiligten Physiker, sowie die Beziehungen der Männer untereinander. Auf diese Weise werden die wissenschaftlichen Fakten um die menschliche Dimension erweitert. Die Rede ist von der Nacht, in der die deutschen am Uranprojekt beteiligten Wissenschaftler vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima erfahren. Von dem Moment, in dem die Abhörwanzen und damit die Engländer, „Zeugen einer historischen Nacht der Bekenntnisse, Bezichtigungen, Zusammenbrüche, Tränen und letzten Selbsttäuschungen“ werden.
Welche Empfindungen hatten die Wissenschaftler, wie gingen sie mit ihrer Verantwortung dafür um, einem gewissenlosen Regime gedient zu haben? Das sind die Fragen, die von Schirach bei der Auswertung der Protokolle umtreiben.
1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, hatten die Engländer die Elite der deutschen Kernphysiker entführt und nach Farm Hall in England gebracht. Die zehn internierten Physiker wurden gut behandelt und nie angeklagt, aber rund um die Uhr abgehört. Für ihre Festsetzung diente eine alte Klausel nach der der englische Monarch „Kriegsgegner auf englischen Boden ohne Anklage (nach Belieben seiner Majestät) bis zu sechs Monaten in Gewahrsam nehmen darf. „Ursprünglich hatten die Amerikaner sogar beabsichtigt die Wissenschaftler für fünf Jahre nach Alaska zu bringen, um sie vor der Welt zu verbergen und damit niemand von ihrer Sachkenntnis profitieren könnte.“
1993 wurden die Abhörprotokolle der britischen und amerikanischen Geheimdienste aus den sechs Monaten Internierung freigegeben.
In „Die Nacht der Physiker“, hat Richard von Schirach diese Protokolle als Grundlage für eine andere Geschichte der Anfänge der Atomforschung ausgewertet.
Im Mittelpunkt dieser anderen, persönlicheren Art von Beleuchtung, stehen Otto Hahn, der Entdecker der Kernspaltung, der bereits eine Rolle während des Giftgaskrieges gespielt hatte und 1944 den Nobelpreis erhielt. Werner Heisenberg, für den Geheimdienst die number one, der bis zuletzt bei seiner Überzeugung bleibt: „Deutschland braucht mich“. Sowie Karl Friedrich von Weizäcker, der Schüler und später enger Mitarbeiter Heisenbergs war.
„Die Theorie entscheidet über das, was wir beobachten können.“ Dieses Zitat von Albert Einstein stellt von Schirach dem Buch voran. Seine Theorie, das macht die Lektüre deutlich, spiegelt sich im Satz Weizäckers aus dem Jahr 1993, mit dem das Buch endet: „Es kann sein, dass ich irgendwo bewusst gelogen habe, es kann sein, dass ich verdrängt und unbewusst gelogen habe. Ich bin kein vollkommener Mensch.“
Bereits 1939 ist sich von Weizäcker der Folgen einer Kettenreaktion, also auch derjenigen einer Bombe, bewusst. Nachdem er sich die Möglichkeiten der Uranspaltung vergegenwärtigt hat, kommt er mit einem Freund zu folgenden drei Schlussfolgerungen: „Die erste Folgerung. Wenn Atombomben möglich sind, wird es jemanden geben, der sie macht.
Zweitens. Wenn Atombomben gemacht sind, wird es jemanden geben, der sie anwendet.
Drittens. Wenn das so ist, dann wird die Menschheit in den jetzt kommenden Jahrzehnten nur die Wahl haben, entweder die Institution des Krieges zu überwinden, oder sich selbst zu vernichten.“
Allerdings führen diese Überlegungen nicht dazu, dass sich von Weizäcker und andere Physiker, die zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen sein dürften, von der Arbeit am Uranprojekt zurückziehen. Vielmehr wirkt der Ausbruch des Krieges als „Brandbeschleuniger“.
Neben der Reaktion auf die Nachricht des Atombombenabwurfs und der Aufdeckung der Lebenslügen, der sich die Wissenschaftlicher häufig vielleicht nicht einmal bewusst waren, beleuchtet von Schirach in seinem Buch die Gründe für das Scheitern des deutschen Vorhabens eine Atombombe zu bauen. Deutschland versagte bereits bei der Isotopentrennung, hatte zu wenig schweres Wasser und zu wenige Praktiker unter den am Uranprojekt beteiligten Physikern.
„Scharfsinn und Kleinmut“ nennt von Schirach das Kapitel in dem er erläutert, warum es den Amerikanern im Gegensatz zu den Deutschen gelungen ist, die Atombombe zu realisieren.
Weit schwieriger zu lesen ist das Kapitel über den Abwurf der Bombe auf Hiroshima, in der von Schirach die bedrückenden Folgen und die unverhohlene Freude der Amerikaner nach dem Abwurf gegenüberstellt.
Während die internierten Physiker, die die Nachricht vom Atombombenabwurf, die sie lange Zeit für eine Propagandalüge gehalten haben, schließlich glauben müssen, vornehmlich damit beschäftigt sind, die eigene Niederlage zu verdrängen bzw. schön zu reden, ist Otto Hahn der einzige, der sich verantwortlich fühlt. Er erleidet einen Schwächeanfall und seine Kollegen halten des Nachts Wache vor seiner Tür, aus Sorge, er könne sich etwas antun.
Friedrich von Weizäcker hingegen äußert: „Die Geschichte wird festhalten, daß die Amerikaner und die Engländer eine Bombe bauten, daß zur selben Zeit die Deutschen unter dem Hitler-Regime eine funktionstüchtige Maschine herstellten. Mit anderen Worten, die friedliche Entwicklung der Uranmaschine fand in Deutschland statt, während die Amerikaner und Engländer diese grässliche Kriegswaffe entwickelten.“
Der Autor Richard von Schirach ist Sinologe. Seinen Vater, den Reichjugendführer Baldur von Schirach, hat er nicht bewusst kennengelernt, bevor dieser verhaftet wurde. Als der Vater 1966 entlassen wurde, fand die von seinem Sohn ersehnte Aussprache über die Nazivergangenheit nicht statt. Mit seinem autobiografischen Buch „Im Schatten des Vaters“ verarbeitete Schirach seine Kindheit und Jugend als „Nazikind“. Dem Phänomen der Lebenslügen geht er auch in „Die Nacht der Physiker“ nach und zeigt auf diese Weise eindringlich die Unmöglichkeit Wissenschaft von den Menschen, die diese Wissenschaft betreiben zu trennen.
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