Kritik

Notizen aus der horizontalen Welt

Roger Deakins moderner Klassiker ist ein Glücksfall für das britische Nature Writing
Hamburg

Auf J.A. Baker und Robert Macfarlane ist nun in der verdienstvollen Reihe „Naturkunden“ bei Matthes und Seitz ein weiterer zeitgenössischer Haupttext des britischen Nature Writing gefolgt: Das „Logbuch eines Schwimmers“ (im Original im Jahr 1999 als „Waterlog“ erschienen) ist die einzige Buchpublikation zu Lebzeiten des viel zu früh verstorbenen Roger Deakin, dessen beide andere publizierte Bände, „Wildwood: A Journey Through Trees“ (2007) und „Notes From Walnut Tree Farm“ (2008) — womöglich sogar noch brillanter als das „Logbuch“! —, vom Freund und Nachlaßverwalter Macfarlane, der wiederum einige gemeinschaftliche Exkursionen in seiner eigenen „Karte der Wildnis“ lebhaft geschildert hat, posthum herausgegeben wurden. Indes hat das „Logbuch eines Schwimmers“ Deakins literarischen Ruhm schon zu Lebzeiten begründet, und dies keinesfalls unberechtigt, denn mit seiner Mischung aus Reportage, Erlebnisbericht, kritischer Bilanz und poetischem Manifest für einen freien Zugang zu sämtlichen Gewässern Großbritanniens schlägt es den Leser sofort in seinen Bann und entführt ihn in eine sicherlich nicht alltägliche Perspektive, aus der unerwartet viel zu entdecken ist.

Inspiriert von einer Kurzgeschichte John Cheevers und einem Platzregen im Sommer 1996, den der passionierte Schwimmer Deakin aus der Froschperspektive im Wassergraben seines Hauses in Suffolk erlebt, entwickelt sich allmählich die Idee, Großbritannien in den verschiedensten Arten von Gewässern schwimmend zu durchqueren. Die Reise beginnt am 23. April auf den Scilly-Inseln und endet am 25. Dezember in der Nordsee bei Suffolk. In dieser Zeit hat Deakin überall in England Flüsse, Kanäle, Seen, Sturzbäche, Mündungen, Höhlen, Teiche durchschwommen, das Hochgefühl des Kaltbadens ausgekostet, Gefahren in Wildbächen ausgestanden, zitternd vor Kälte im Meer einige Bahnen gezogen und schließlich in London ein beheiztes Bad aufgesucht —: und wie er da „so auf dem Rücken im Wasser lag und in die Höhe schaute, sah [er] die Balkone der Sozialwohnungen, die erhellten Bürofenster mit den Menschen an ihren Computern und ab und an noch weiter oben ein Flugzeug im mittlerweile sternenbedeckten Himmel“.

Deakins kundiger Blick ist nicht nur auf die Tier- und Pflanzenwelt in und an den Gewässern gerichtet, sondern mit nicht minder fixem Auge auch auf die jeweiligen Eigenheiten der Umgebung. Ihm entgeht die Great Coxwell Barn, das größte landwirtschaftliche Gebäude Englands, das William Morris „für so schön und würdevoll hielt wie eine Kathedrale“, ebensowenig wie die Architektur der Schwimmbäder in London, mit dem speziellen Hinweis, daß Berthold Lubetkin nicht nur einen Pool in High Point, sondern auch das „berühmte ellipsenförmige Becken mit den zart geschwungenen Betonschleifen“ für die Pinguine im Zoo entworfen hat. Der Schwimmende wird somit zu einem Abenteurer des Alltags, gemäß dem von ihm selbst gesetzten Vorhaben: „Im Grunde benutzte ich die Karte nicht, um mich zurechtzufinden, sondern um mich zu verirren, mich in der Landschaft zu verlieren. Wohin ich wanderte oder schwamm, davon würde meine nonkonformistische Karte unseres Landes berichten.“ Der Schwimmer sieht die Dinge aus einer anderen Perspektive als der Wanderer oder Fußgänger, und dieser Perspektivenwechsel ist ein Plädoyer für das Ungewohnte, für das Wilde, auch für den freien Zugang zu den immer weiter schwindenden Orten, die ohne Zäune und Verbote erreichbar sind.

Zugleich ist diese Betätigung in der Natur auch eine Einübung in die Gegenwart: „Das Tolle am ziellosen Schwimmen ist, dass sich alles im Hier und Jetzt vereint; nichts von seiner Essenz und Intensität kann sich in Zukunft oder Vergangenheit verflüchtigen. Der Schwimmer folgt zufrieden seinem Weg voller Geheimnisse, Zweifel und Unsicherheit.“ Deakin spielt hier ganz offensichtlich auf die negative capability des Dichters John Keats an, die Fähigkeit, sich auf den vollen Umfang der Realitäten einzulassen. Das wachsame Auge des Autors registriert darum alles, was jenseits der Ufer geschieht — es taucht etwa bei der Beschreibung der Zinngewinnungsindustrie in Dartmore, die die weltgrößte gewesen sein soll, in historische Dimensionen ein, berührt beiläufig die Schriftsteller William Morris und Henry Williamsson, kritisiert die englischen Umweltgesetze, beobachtet eine Biker-Gruppe beim Springen von der Brücke und nimmt die Blandford-Mücke zum Anlaß, über die Fremdenfeindlichkeit mancher Engländer zu sinnieren.

Aufs Glücklichste kommen im „Logbuch eines Schwimmers“ wunderbar anschauliche Beschreibungen der umgebenden Landschaft, vor allem des Wassers und des Lichts auf dem Wasser, zusammen mit humoristischen Anflügen —: da peitschen unter strömendem Regen „Sturzwellen in der Farbe dreckiger Unterhosen“ oder pfeift ein von Schrotkugeln durchlöchertes Verbotsschild wie „eine äolische Alarmanlage“. Roger Deakin zeigt, für viele Beiträge zum britischen Nature Writing nicht untypisch, daß der Blick für die Natur durchaus vereinbar ist mit diversen Betätigungen in der Landschaft — man denke etwa an Chris Yates’ Bücher über das Fischen — und daß in jedem unscheinbaren Tümpel und Wassergraben selbst vor der eigenen Haustür eine aufregende Welt verborgen liegt.

Roger Deakin · Judith Schalansky (Hg.)
Logbuch eines Schwimmers
Reihe Naturkunden
Übersetzung: Frank Sievers, Andreas Jandl
Matthes & Seitz
2015 · 387 Seiten · 38,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-166-3

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