Bella 44
Das neue Heft der Bella triste ist mir ins Postfach geflattert. Das gibt ein Federlesen! Ich werde eine kleine Kapitelreise antreten und mir mal ansehen, was die neusten Texte „junger Literatur“ so zu bieten haben.
I – Am Anfang war ein sanfter Loop von Porzellan plus Siamkatzen
Der erste Text ist von Mercedes Spannagel, einer 1995 in Wien geborenen Autorin (überhaupt ist ein hoher Anteil an ÖsterreicherInnen in dem Heft zu bemerken). Er heißt „Untereinander“ und ist ein kleines Familien-Durcheinander, in dem sich Streiflichter von Oma, Opa und Eltern elastisch um die Darstellung ihrer beiden Kinder bzw. Enkelkinder winden. Eine der Töchter heißt Andrea.
Meistens hat Andrea einen Mund aus Porzellan, starr und kalt. Wenn Andreas Lippen auseinander brechen, dann beginnen ihre Sätze öfter mit „Ich will“.
Zu der leichten Obsessionsästhetik, die sich an Andrea und das wiederkehrende Motiv des Porzellans (in Kombination mit Katzen, aus Porzellan und aus Siam) schmiegt, gesellt sich eine perspektivische Verwirrung, weil das Du, das im Texte angesprochen wird, auf gelungene Art und Weise undurchsichtig bleibt. Die Redaktion gibt im Vorwort einen Hinweis, wie es zu verstehen ist, dieses Du. Ich bin mir da nicht so sicher, liebe Redaktion!
Es gibt zwar einige etwas motivverliebte, gewagte Wie-Vergleiche –
Dein Lächeln ist dann lang wie ein Katzenleben.
– und Katzen „kreischen“ auch mal gerne, was ich mir nicht wirklich vorstellen kann (oder hab ich da ne Metaphorik nicht verstanden?) – aber der streifende Stil und der perspektivische Ansatz überzeugen letztendlich, sodass man vieles verzeihen kann.
II – Mutterzeit, Endzeit
Beim zweiten Text „Mutterkind“ – einem Text von Greta Lauer, einer Kärntner Autorin – meldet sich mein längst vergessener Open-Mike-Koller: Nicht schon wieder ein Text übers Mutterwerden! (Nein, Spaß beiseite: eigentlich finde ich den bedrohlichen und gleichsam existenziellen Touch, den dieses Thema in vielen Texten jüngerer deutscher Literatur bekommt, durchaus interessant; und bin mir darüber hinaus im Klaren, dass ich als Mann die ganze Tragweite dieses Konflikts auch gar nicht ermessen kann.)
„Mutterkind“ entpuppt sich dann – nachdem der Text am Anfang mit ein bisschen übergroßer Gestik loslegt und die auch nie wieder ganz ablegt – als eine zerfranste Folge von Szenerien rund ums Muttersein, Tochtersein und Gefangensein; entpuppt sich als ein Text, der sich nicht so recht entscheiden kann, wohin er eigentlich führen will und irgendwie versucht daraus eine Tugend zu machen.
Dystopische Landschaften, die phantastische Endzeiten anklingen lassen, dann wieder schlichte Gesellschaftsprügel und misanthropische Sprachfokussierungen, die an Josef Winkler denken lassen oder Gisela Elsner; schließlich Muttertod und das Töten des eigenen Mutterseins – schnell kennt man sich nicht mehr wirklich aus.
Es gibt einige starke Bilder, die wie allein auf weiter Flur stehen, während der Rest der Sprache sich den Weg des geringsten Widerstandes sucht, vom eigenen Verlangen geschrieben zu werden angetrieben. Und spätestens wenn es zu solchen Stellen kommt, fragt man sich, ob hier nicht etwas zu bewusst Misanthropie zu Eloquenz und Literatur geschmiedet werden soll:
Eine Steppe ist die Stadt im Sommer, eine Öde. Alle sind sie an den Fluss gegangen und auch ich gehe an den Fluss. Da weidet das weiße Fleisch unter gekrümmten Kiefern.
Müssen denn auch noch die Kiefern unbedingt gekrümmt sein?!
III
Es folgen sehr, sehr, sehr enttäuschende Gedichte. In Worte-Fassung gegossene Abseitig- oder Offensichtlichkeiten, die jeglicher Erweiterung der Sinn(es)ebene trotzen. Ein Gedicht soll Dinge doch nicht nur beschreiben, sondern illustrieren, figurieren, imitieren, inhalieren, multiplizieren, antizipieren, elaborieren, philosophieren, darauf und hinein reagieren! Aber nicht nur kopieren und ein bisschen verknappen!
mikroskopierte
wurzelverzweigung deiner hand
fingernagelfeste
diese schwungbiegung
zwischen knöchel und knöchel
dieses rauschen
fangflug der
linienmessungen
Soweit ein Beispiel aus „//variationen über eine hand//“. Gut herangezoomt, aber mehr nicht, so meine Meinung. Solche Gedicht sehen immer „gut gemacht“ aus. Aber was ist ihr Mehrwert, wenn sie sich auf der einen Seite beim Minuziösen anbiedern und auf der anderen Seite komplett der Vorstellungskraft des Lesers entziehen? Immerhin enthält dieses Gedicht aber noch eine illuminierende Zeile:
vogelnah dein kleiner finger
IV – Text mit magischer Kragenweite. Und etwas Porno.
Der Prosaauszug „Cassadini“ von Lucan Friedland vergeht wie ein Fingerschnipsen. Der Autor baut sehr viel auf, bedient sich sacht einiger schon eingesessener erzählerischer Kniffe, aber sein Stil hat den richtigen Schwung und er selbst eine leicht überschäumende narrative Begabung. Man möchte weiterlesen, sich mit dem Auszug nicht zufriedengeben.
Es geht um zwei Brüder, die alleingelassen werden. Die Eltern fliegen weg in einen Urlaub von unbekannter Dauer, wollen sich eine Auszeit nehmen; der Vater hat zu viele Videokassetten angeschleppt, die überall im Haus herumliegen. Nie hat er eine von ihnen angesehen, er murmelte nur einmal was von:
der rätselhaften Kraft der Magneten, den Vorteilen des Rechtecks gegenüber dem Kreis und von bunten Verpackungen, die einem, wie Schatzkarten, den Weg in die Zukunft weisen würden.
Thriller, Bollywood, Spätwestern, alles ist dabei. Auch Pornos. Und das Video eines Zauberer-Auftritts, das den Ich-Erzähler, den großen Bruder, in seinen Bann zieht. Er versucht etwas über den Zauberer in Erfahrung zu bringen. Der kleine Bruder möchte Walschützer werden. Dann kommt ein Mädchen ins Spiel. Und ein Porno.
Als wäre es ganz unerheblich, geht der Textauszug den meisten Sinnfragen aus dem Weg, spielt lieber mit seinen narrativen Elementen. Immer wieder erreicht der Text neue Formen der Eindrücklichkeit und verliert doch nicht seine Geschichte – eine seltene und hochwillkommene Balance!
V – Ja. Hmm …
Gerade so entkommt Christoph Szalays „Heart of Darkness Remix FT. UW” dem Leierkastentext und macht viele wichtige Punkte fest. Schon wenn er am Anfang Sticker von Keith Hennessys „Turbulence [A dance about the economy]“ zitiert, ist klar worum es geht, um Wut und Machtlosigkeit:
YOU LIED
YOU MADE A FUCKING KILLING
YOU GOT AWAY WITH IT
AND THEN YOU GOT PROMOTED
Doch schon an diesen Ausbruch schließt sich der Versuch an, eine Sprache zu finden; eine Sprache, die dokumentiert, aber auch infiltriert, die invasiv ist und die Problematik des Kolonialen ans Persönliche heranträgt, Überschneidungen klarmacht. Dass der Text dabei zu sehr selbst Dokument sein will, kann man letztlich außenvorlassen. Denn es gelingt ihm, wenn man sich auf ihn einlässt, nicht nur Zweifel und Begrifflichkeiten feil zu bieten, sondern unter der Hautoberfläche des Lesers anzusetzen, sie nach außen zu drücken.
sag, wieviele Wünsche lassen sich darauf schreiben, wenn du sie dir abziehst
Der Text involviert einen.
weißt du, ich hab keinen schimmer davon, nicht mal von den eigenen gesetz-, den eigenen gesetzmäßigkeiten. davon also, muesste es zunaechst doch gelten, sich nen ueberblick, wenn schon keinen ueberbegriff, zu schaffen. von diesem eigenen oder dem, was du dafuer haeltst, was du um dich rum siehst und findest, befingerst eigentlich oder zieh doch endlich mal in den kampf, hoerst du dich krakeelen
VI – Tick hin und/oder her
meine erinnerung ist fikiv […]
fiktiv heißt: raten in glitzerscheckbüchern versenken.
Ja, ja,
aber wer bereits glitzert, fickt nicht dort, wo er zaubert.
Wenn das, was ein Gedicht sagen will, durch die Wortwahl an Tiefe ausgelotet werden soll, verhalten sich die Gedichte von Lara Rüter so: sie werfen Steine ins Wasser. Man hat keine Ahnung wie tief das ist, was sie sagt, aber die Steine, die Wörter, geben vor es zu wissen, sie liegen auf dem Grund verteilt. Nur kann man weder hören, wie sie aufschlagen, noch ist man gewillt, jedem Stein zuzusehen, wie er tiefer und tiefer sinkt und vielleicht weit von den anderen entfernt aufschlägt, ohne dass sich ein Muster ergibt.
theorien übers flechten sind theorien über geschlechter.
[…]
seriöses verrücktsein schätzt man nicht, sonst wär das gezeter bunter.
Ich will mich ja auf diese Sprache einlassen – aber warum weicht sie mir ständig aus? Jeder Satz macht mir ein Angebot aus Reizwörtern und einer scheinbaren Einschwörung von Sinngehalt – und fliegt dann ein Ausweichmanöver. Worauf läuft das hinaus? Was mich angeht, leider aufs Überflüssige.
VII – Godot als Astronaut beim Kreuzworträtsellösen
Ein Pool aus drei Texten, an dem man ein bisschen chillen kann. Philip Krömer, taz-openmike-Gewinner, führt eine kleine Beckett-Parodie auf, „Nie und nimmer und nirgends“, mit Godot als deus-ex-machina und dem schönen Dialog:
Du, warten wir nicht auf Godot?
Der wartet selber.
Auch hier am Pool: Maruan Paschen und sein Kreuzworträtsel rund um ein brandaktuelles Thema (was ja bei Kreuzworträtseln nicht üblich ist), aus dem ich zwei Sätze mitnehmen kann:
1. verbindungen, wo keine sind, sind immer noch verbindungen
2. Opfer sein und Opfer sehen.
Dann Platz nehmen bei Frida Palmen. Sie erzählt von Astronauten. Vom Bibelkreis, der Tür zum Himmel. Und, ja, wenn es möglich wäre, einen Stuhl zu befestigen auf dem Mount Everest, Stuhllehne bis hoch zum Mond, dann könnte man sich bei manchen Katastrophen einfach mal hinsetzen. Oder einfach beim Anblick des Universums. Dieser Gedanke ist schön.
VIII – Ist das Risiko Gefahr oder die Gefahr Risiko?
Durch die Transformation von Gefahren in Risiken lässt sich nach Niklas Luhmann die Handlungsfähigkeit von Akteuren bestimmen […] Ein ‚Risiko‘ ist, was sie oder er durch eigenes Handeln oder Entscheiden als beeinflussbar einschätzt, einer ‚Gefahr‘ steht man dementsprechend handlungsunfähig gegenüber.
Sehr zu Dank verpflichte bin ich Julia Oehmes Text „It’s more risk less fun, I’m afraid“ einem wissenschaftlich-theoretischer Essay zu Fragen von Risiko und Sicherheit in medial-durchdrungenen und globalisierten Gesellschaften und Zeiten. Ein teilweise sehr abstrakter, aber auch sehr nachdenklich stimmender Text, der einige wertvolle Gedankengänge enthält und sich auch mit der Fragilität von Statistiken auseinandersetzt. Manche Sachen bringt es auch einfach mal auf den Punkt. Thumbs up!
Die Risiken, die unsere Gesellschaft beschäftigen sollten, sind diejenigen, die Ortwin Renn als ‚systemische Risiken‘ bezeichnet. Sie lassen sich kategorisieren nach Risiken, die durch menschliche Eingriffe ins Ökosystem entstehen, Risiken die aus Steuerungsdefiziten gesellschaftlicher Systeme wie Wirtschaft entwickeln und Risiken die durch soziale Fehlentwicklungen verursacht werden.
IX – In zwei Tagen stimmt vielleicht nichts mehr davon
Teresa Präauer und Roman Ehrlich im Gespräch über Fiktion und Realität (wobei kurz schön angestoßen wird, dass die vermeintliche Realität in ihrem Hang zur Abstraktion etwas Fiktives hat, während die Fiktion in ihrem Willen um Ausdruck eigentlich realer ist als die Realität), über Dystopie und Schreibansätze, Theorie und Akkumulation von allerhand Aussagekräftigkeiten. Vielleicht ist davon schon längst nichts mehr wahr. Interviews sind flüchtiger als jede andere Gattung, behaupte ich jetzt mal. Mal abgesehen von Rezensionen.
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