Rosmarie Waldrop füllt abstrakte mathematische Betrachtungen mit weiblicher Sinnlichkeit
Eigentlich ist „Ins Abstrakte treiben“ ein Gemeinschaftswerk, oder vielmehr eine sehr gelungene Ausführung meines Lieblingsfragments von Novalis. 1789 formulierte er in den Blütenstaubfragmenten unter der Nr. 125: „Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niederen schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat, scheidet beim Lesen wieder das Rohe und das Gebildete des Buchs – und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein zweiter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch, dass die bearbeitete Masse immer wieder in frischtätige Gefäße kommt, die Masse endlich wesentlicher Bestandteil – Glied wirksamen Geistes.“
Waldrops Buch veranschaulicht neben aller Originalität und dem eigenen Wert, dass Mathematik und Poesie voneinander profitieren können und dass die Auseinandersetzung, das erweiterte Lesen eines Werkes zu einem ganz eigenen Kunstwerk mit ganz eigener Aussagekraft werden kann. Eine Weiterführung, ein Gespräch, das weit über das Zitieren oder das Verwenden von Quellen hinausgeht.
Waldrops Auseinandersetzung und Weiterführung von Brian Rotmans Buch „Die Null und das Nichts“, lebt vom Hinzufügen einer neuen, weiteren (erhellenden) Dimension, indem man sich selbst ins Spiel bringt. Leidenschaft ohne Pathetik, Erkenntnis ohne Ego.
Auf jeden Fall handelt es sich bei dem, was Waldrop, angeregt von Rotmans Überlegungen, schreibt, um Symbiose, um Zugewinn, nicht um Widerspruch. Um den Versuch mit einer anderen Disziplin Licht in diejenigen Winkel zu bringen, die nach wie vor im Dunklen liegen.
Das Auftauchen der Null, das Rotman in seinem Buch als Ausgangspunkt eines neuen Welt- und Wahrnehmungsbildes beschreibt, klingt bei Waldrop so:
„Erst war das Zählen, will sagen, primitive semiotische Aktivität.
Viel später ein Zeichen verbunden mit nichts, will sagen, die
Leere, will sagen, ein Ort, wo kein Ding ist, will sagen, systemati-
sche Mehrdeutigkeit. Zwischen fehlendem Ding und fehlendem
Zeichen eine Strecke zu reisen. Und dazu ein Zauberspruch gegen
den bösen Blick.“
Die Null als Zeichen für Abwesenheit – „Willkommen das Abstrakte samt seiner Beklemmung.“ – Die Auswirkungen durch theoretische, abstrakte Gedankenkonstruktionen in Gang gesetzter Prozesse werden körperlich, sogar sinnlich, beschrieben.
„Ein Zeichen für Abwesenheit. Tritt ein in die Frage des Ursprungs.
Und beherrscht Beziehungen. Gemacht von einem, der zählt,
einem, der sieht, einem, der kauft und verkauft. In körperlicher
Verwechslung. Und wiederum weggenommen: ein Zeichen über
Zeichen, sozusagen genutzt als sei´s. Eine Zahl unter Zahlen. Noch
ein Ort innerhalb eines Gemäldes. Nicht eingebildetes Geld, son-
dern einfach mehr.“
Wie Waldrop die Einflüsse dieser mathematischen Revolution, von Rotman theoretisch fundiert beschrieben, auf den Gebieten der Malerei, der Religion und des Finanzwesens poetisch auf den Punkt bringt, ist atemberaubend.
„Jetzt sind die 0 und die 1 unser Geld. Wir haben die Bäume ein-
getauscht, die Blätter, die fallen und aufwirbeln und nachwach-
sen, den jährlichen Zyklus. Für einen Schatten von Schatten. Einen
winzigen elektrischen Blitz.“
Sie macht all das theoretisch schwer verständliche, weil eben Abstrakte, wunderbar konkret. Körperlich. Plastisch.
Die Null als „präzedenzlose Position, quasi auf der Welt sein, ohne geboren zu sein,“ ist nur eines von vielen wunderschönen Bildern für das Unvorstellbare.
Der im 15. Jahrhundert die Malerei revolutionierende Fluchtpunkt wird bei Rosmarie Waldrop zum „Ort jedoch, der Richtung Unendlichkeit verschwindet. Deine Reaktion auf diese Entfernung ist Wind, der über gefrorene Ebenen her bläst.“
Shakespeare spiegelt in seinem Stück „König Lear“, das Wesen der Liebe mit dem neuen kapitalistischen Denken, und verdeutlicht so die Auswirkungen einer finanzwirtschaftlichen Veränderung auf das intimste Miteinander der Personen. „Ohne Halt in Gefühlen“, bringt Waldrop diese weitreichende finanzielle Revolution auf den Punkt.
Immer wieder, in allen angesprochenen Bereichen, setzt Waldrop dem Abstrakten, bei aller Macht, die es auf gesellschaftliche Prozesse und das Denken ausübt, die Überlegenheit des Körperlichen, des Sinnlichen, als erfahrbare Realität entgegen. Das Begehren erscheint als Kehrseite, als eine Art Gegenmacht zu all den abstrakten theoretischen Prozessen.
„Wörter, die die ganze Nacht im Körper schlafen und am Tag her-
auskommen und dich berühren wie eine warme Hand.“„Aber Sehen hat nicht notwendig Verbindung zum Schauen. Dem
Körper ist die Quelle seiner Sinneseindrücke gleichgültig.“
Können das Abstrakte, Logische, Mathematische, und die Gefühle, das Begreifen, das im ganzen Körper wohnt, versöhnt werden?
Oder ist das die falsche Frage? Um etwas zu schreiben, das den ganzen Menschen anspricht, Geist und Seele, ist es unerlässlich beides zu erwähnen. Überflüssig zu sagen, dass es genau das ist, was Rosmarie Waldrop in ihrem Buch Seite für Seite tut. Eben nicht abstrahieren. Sondern die ausgeblendeten Aspekte namentlich des Körperlichen, zurückholen.
„Der Wind brüllt und pfeift rasend. Säulen von Schnee steigen hoch
auf. Und es ist unmöglich zu unterscheiden. Zwischen Schnee,
der aus Wolken fällt, und Schnee, der sich vom Grund erhebt.
Getrieben vom Wind.“
Natürlich geht auch um die Grenzen des Unterscheidungsvermögens.
„Dennoch stürzen wir uns so gierig darauf. Mit allen Furchen
unseres Seins. In der Hoffnung, dass Symbol tatsächlich Ding her-
vorbringt und im Prozess wird. Dennoch auch hoffen, dass wir
uns hiermit nicht definiert haben über Gebühr.“
Waldrop findet den Grund für Zweifel und Dennochs darin, dass wir uns leichtfertig auf etwas eingelassen haben, dessen Folgen wir nicht absehen konnten. Und nun gibt es kein Zurück.
„Eine Illusion, deren Natur wir vergessen hatten und deshalb für die Wahrheit hielten.“
Am Ende läuft alles darauf hinaus. Auf diesen Riss im Denken zwischen Nichts und Null.
Die Kirche und ihr Umgang mit dem Nichts. König Lear mit seiner kapitalistischen Transaktion. Der Perspektivwechsel durch die Einführung des Nullpunkts.
„Auf Zeichen vertrauen wir. Dass sie Balkone bauen
hinaus über die Leere.“„Am Grunde jeden Dings finde ich ein Wort, das es
gemacht hat. Und ich schreibe. Habe einen Pakt geschlossen mit
der Nichtigkeit.“
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