Verunglücktes Sozialdrama
The Kid lebt unter einer Autobahnbrücke. The Kid nennt sich selbst The Kid. Er ist verurteilter Sexualstraftäter, Anfang zwanzig, und unter der Brücke lebt er, weil er sonst nirgends hin kann. Er muss sich mindestens 750 Meter von Kindern fernhalten, also ist der Slum unter der Brücke der einzige Ort für ihn. Er lebt dort unter Seinesgleichen: Vergewaltiger, Kinderschänder. Verstoßene, wie der Titel von Russell Banks‘ neuem Roman klarmacht. Im Original heißt er, weniger pathetisch, „Lost Memory Of Skin“, übersetzt von Barbara Christ, jüngst bei Schöffling erschienen.
Um Menschen „am Rande der Gesellschaft“ soll es gehen und um „die Abgründe der modernen Informationsgesellschaft“, zumindest wenn es nach dem Klappentext geht, und einerseits stimmt das, andererseits auch wieder nicht. Wer ein engagiertes Sozialdrama über „die da unten“ erwartet, wird den Roman allerspätestens nach 300 trägen Seiten endgültig zuklappen – doch dazu später mehr.
Dass Kids Vergehen im Vergleich zu denen seiner Mitbewohner eher harmlos war, das macht der Erzähler rasch klar, auch wenn es hunderte Seiten bis zu einer Auflösung braucht, die auch schon auf der ersten hätte stehen können. Kid ist ein bauernschlauer aber unsicherer Junge ohne Bezug zu sich selbst, der von der ganzen Gesellschaft gepeinigt wird, ohne ihr das so richtig verübeln zu können, und dann gibt es auch noch eine Polizeirazzia unter der Brücke, bei der einigen Bewohnern Knochen gebrochen und Kids Leguan Iggy erschossen wird. Eigentlich will Kid gar nicht hier sein. Die anderen, die „richtigen“ Verbrecher, verabscheut er, aber zwangsweise freundet er sich mit einigen an. Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft.
Ein Lichtblick ist für ihn der korpulente ältere Herr, den Kid nur den Professor nennt: Ein Sozialwissenschaftler, der die Zusammenhänge von Sexualverbrechen und Obdachlosigkeit zu ergründen vorgibt und Kid eine neue Perspektive ermöglicht. Der Professor bleibt eine skurrile, undurchsichtige Figur, die mit ihrer Vergangenheit (über die man nur Schemenhaftes erfährt) hadert. Über Hunderte Seiten plätschert der Roman vor sich hin, reiht seitenweise Redundanzen aneinander ohne dass die potentiell interessante Handlung wirklich vorankommt. Man gewinnt zunehmend das Gefühl, dass der Autor, der immerhin zweimal für den Pulitzer Preis nominiert war, sich verrennt und am Ende selbst nicht mehr so genau weiß, was das Ganze eigentlich soll, bis er sich mit einer aberwitzigen Wendung, die den Großteil der Leser vor den Kopf stoßen dürfte, aus der Affäre zieht: Plötzlich sieht sich der Prof von Geheimagenten verfolgt, die seinen Tod anstreben, und Kid soll ihm helfen, seine letzten Worte zu hinterlassen. Kurz darauf fischt man den Prof aus einem Fluss. Selbstmord, heißt es, genau wie angekündigt.
Kid schwankt hin und her zwischen der Frage, was er wirklich über den Prof weiß und ob der die Geschichte glauben soll. Hier versandet das Buch endgültig, und die letzten dreißig Seiten sieht sich der Leser mit einer recht platten Message konfrontiert, die ihm wieder und wieder mit Hilfe von Dampfhammer und Küchenpsychologie eingehämmert werden soll, während selbst der bis dahin recht gut greifbare Kid zum völlig unglaubwürdigen Pappkameraden in einem holprig konstruierten Kontext verkommt.
Schade drum.
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