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Kritik

Marie entdeckt das Leben

Sandra Weihs‘ Debütroman Das grenzenlose Und wurde mit dem Preis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet
Hamburg

Sandra Weihs arbeitet als Sozialarbeiterin in Österreich mit be­nach­tei­lig­ten Jugendlichen und Familien. Da könnte es durchaus sein, dass ihr ein Mädchen begegnet, das ähnliche Probleme hat wie ihre achtzehnjährige Protagonistin. Marie hat nämlich als Borderline-Patientin mit großer Todessehnsucht mehrere Selbstmordversuche hinter sich. Ihre Eltern wollten sie nicht, die Mutter trinkt und trat nach ihr, wenn Marie ihr widersprochen hat. Das ist der Auslöser für Maries Selbstverstümmelungen.

Ich nehme die versteckte Rasierklinge aus dem doppelten Boden meines Nachtkästchens und schneide mich tief. Mit jedem Zentimeter Haut, den ich durchtrenne, gebe ich ihr einen Zentimeter der Schuld zurück. Mit jedem Tropfen Blut, der aus der Wunde tritt, wird das Böse in mir weniger, das Böse, das ich von meiner Mutter erhalten habe und das ich aus mir herausbluten möchte. Ich will meine Mutter spüren lassen, dass sie Schuld hat an mir und daran, wie ich bin.

Marie spürt ein großes schwarzes Loch in ihrem Herzen, liest und zitiert das Buch Vom Nachteil, geboren zu sein von Emil Cioran, Kurt Cobain ist ihr Idol und Gloomy Sunday ihr Lieblingssong. Sie lebt in einer betreuten WG zusammen mit Mädchen, die alle eine gewisse Kaputtheit ausstrahlen. Eigentlich gehört Marie in die geschlossene Psychiatrie, aber sie hat Glück, auf den unkonventionellen Dr. Wilhelm Fink, genannt Willy zu treffen. Der hat nicht nur mehrere unterschiedlich farbige Sofas in seiner Praxis stehen hat, sondern lässt sich auch auf ihre Sprache ein (Notgeil bist du auch, und einen Arsch in der Hose vermisse ich bei dir ebenfalls) und imitiert ihren Kleinkindverzweiflungsblick. Kurz, auch wenn es für den Leser übertrieben wirkt, scheint er alles zu versuchen, um an ihr Inneres heranzukommen. Mit ihm hat sie einen Deal.

Ich lasse dich raus, wenn du mir versprichst, ein Jahr lang keinen Selbstmordversuch zu unternehmen, und bei mir in Behandlung bleibst. Aber mitarbeiten musst du.

Die Handlung setzt dreieinhalb Monate vor Ablauf der Frist ein. Bei ihrem Therapeuten trifft Marie Emanuel, der nur ein paar Jahre älter als sie ist. Er hat einen Hirntumor, plant ebenfalls seinen Selbstmord und möchte, dass Marie ihm hilft, die Angst vorm Sterben zu überwinden.

Emanuel hat Angst. Dabei könnte er froh sein. Ich wäre es, hätte ich Krebs. Wenn du eine Krankheit hast, die dich vom Leiden erlöst, wird das akzeptiert, alle bemitleiden dich, trauern um dich und dein Schicksal und dabei ist es egal, ob du sterben willst oder nicht. Bringst du dich um, bist du die Dumme. Die Böse. Die Verrückte. Dabei ist der Tod der einzige Ausweg aus dieser verrückten Welt, in der alles unfair, ungerecht und verkommen ist.

Emanuel würde lieber leben, aber er wird sterben und möchte bestimmen, wann und wie das geschehen soll. Marie hingegen könnte leben, aber sie will lieber sterben. Deshalb setzt sie bei Emanuel gegen dessen Willen und Verständnis durch, dass sie beide den Weg in den Tod gemeinsam gehen werden. Als Datum legen sie den zwölften September, Maries Geburtstag, fest.

Und nun beginnt für Marie eine Zeit voller Widersprüche. Einerseits plant sie weiterhin ihren Tod, geht mit sich rücksichtslos um, kifft, betrinkt sich, andererseits lebt sie mit dem Sozialarbeiter Jonny ihr Bedürfnis nach Sex heftig aus und hat plötzlich eine unglaubliche Lust auf eine Fußmassage.

Viel Zeit verbringt sie mit Emanuel, zu dem sie große Zuneigung entwickelt, und in dessen Familie sie zum ersten Mal so etwas wie Geborgenheit empfindet. Dabei ist Emanuels Familie alles andere als normal. Schon Therapeut Willy nannte Emanuel zu Maries Erstaunen einen Hurensohn und nun erfährt sie, dass er mit seiner Oma Hilde und der esoterischen Schwester Lara in einem ehemaligen Bordell wohnt, das Hilde einst betrieben hat und in dem seine bei einem Unfall umgekommene Mutter ebenfalls Freier empfing. Marie denkt sehr viel über das Leben, die Gesellschaft mit ihren Ungerechtigkeiten und über die aufgezwungene Rolle nach, die der Einzelne darin spielen muss. Dabei hören sich ihre Gedankengänge für eine Achtzehnjährige oft zu erwachsen an, aber möglicherweise ist es Maries ständiges Balancieren auf Grenzlinien, die sie solche Sätze formulieren lassen.

Vielleicht liegt der Sinn in einem Apfel. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und wenn man stirbt, denkt man, jetzt begreife ich, der Sinn ist Apfel. Aber wenn man stirbt, denkt man nicht mehr. Also kann man nicht mehr Apfel denken oder fühlen, und vielleicht ist dann nur noch Sinn und immer noch unklar und überhaupt, wie soll man jemals begreifen, wenn vor dem Sterben nichts vom Sinn erfahren werden kann und im Tod dann nur noch Sinn ist und nichts anderes mehr, womit man ihn vergleichen kann.

Was fühlt jemand, der weiß, dass er oder sie sich in dreieinhalb Monaten umbringen wird? Antwortet man wirklich so wie Marie, als Emanuel sie fragt, was sie bis zu ihrem Massaker noch machen sollten? »Keine Ahnung« sagte ich und finde, das ist noch eine ganz schön lange Zeit.

Und kann man sich wirklich köstlich amüsieren, wie Emanuel, weil seine Oma für ihn ein Grab gekauft habe und gleich zwei weitere zum Sonderpreis für sich selbst und seine Schwester? Aber vielleicht ist es für die beiden dann doch dieses grenzenlose Und.

Und das ist grenzenlos, weil es verbindet, und immer alles ist, weil es das Dazwischen ist und in das Gute und das Schlechte eindringt und deren Grenzen sprengt, deswegen ist die Welt das grenzenlose Und.

Schön an dem Roman ist, dass die immer wieder eingestreuten manchmal recht abstrakten Überlegungen, mit Ängsten und Wünschen der beiden Protagonisten korrespondieren, die viel authentischer wirken. Am Ende wollen sowohl Marie als auch Emanuel ihre ursprüngliche Vereinbarung abändern. Denn, so heißt es im Klappentext: in jeder guten Geschichte kommt auch in dieser etwas dazwischen.

Sandra Weihs
Das grenzenlose Und
Frankfurter Verlagsanstalt
2015 · 188 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-627-00220-6

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