Wahre Geschichten – schön verschlossen
Was treibt eine Schriftstellerin zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu, sich ernsthaft mit Geistergeschichten zu beschäftigen? Stehen am Ende der Entwicklungskette von Aufklärung, Moderne und Postmoderne nicht der Tod der Metaphysik und der des Paranormalen sowieso? Aus der Sicht der akademischen und philosophischen Theorien mag das schon stimmen. Praktisch sieht es aber so aus, dass die Menschen nie ihre Faszination für das Unheimliche verlieren werden. Eine Faszination, die sich leicht mit den Worten Sarah Khans begründen lässt. „Unheimlichkeit ist eine Art Verschlossenheit, die durch ihre Ästhetik stabil ist. Einfacher gesagt: Unheimlichkeit ist schön verschlossen.“ Ob es der Reiz am Mysteriösen in einer scheinbar restlos aufgeklärten Welt ist, der die Schriftstellerin antreibt, lässt sich nach dem Lesen ihres Buches nicht zweifelsfrei sagen. Sicher ist jedoch, dass Khan den Geschichten in Die Gespenster von Berlin nicht nur aus einer Laune heraus nachging, sondern sie durch einen gehörigen Rechercheaufwand aus dem tiefen Gedächtnis, manchmal auch dem Unterbewusstsein, der Hauptstadt geborgen hat.
Bereits 2009 erschien ihre Sammlung „unheimlicher Reportagen“ zum ersten Mal. Vier Jahre und unzählige Leserbriefe später veröffentlicht der Suhrkamp Verlag eine um vier Kapitel erweiterte Neuausgabe; diesmal mit dem Untertitel „wahre Geschichten“. Darin erzählt Sarah Khan hauptsächlich Geschichten von Menschen, die Häuser oder Wohnungen bewohnten, in denen es ihrer Ansicht nach spukt oder die eine unheimliche Aura umgibt. Dabei wird der Spuk selten konkret benannt, sondern meist nur mit einer „seltsamen Energie“ umschrieben. Die Autorin versucht diesen Eindrücken auf den Grund zu gehen, ohne dabei die Existenz von Geistern beweisen oder widerlegen zu wollen. Vielmehr geht es ihr darum, das Unheimliche zu umkreisen und festzustellen, warum es an bestimmten Orten auf uns wirkt. Die enge Teilhabe, die der Leser an der Recherche bekommt, verdeutlicht schnell, dass hier wie in den fertigen Texten meist der Weg das Ziel ist. Darum kann ruhig verraten werden, dass am Ende vieler Geschichten im Holocaust ermordete Juden oder Zwangsarbeiter stehen, die nicht wenigen Häusern und Wohnungen in Berlin eine beklemmende Stimmung verleihen.
Doch auch das Berliner Umland ist noch immer vom Schrecken des Zweiten Weltkrieges verseucht, und das darf man an dieser Stelle wörtlich verstehen. So vermittelt das Kapitel Formen im Sand den Eindruck, dass die Seelen der 1945 unehrenhaft im märkischen Sand verscharrten Soldaten ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen. Zumindest schien das eine junge Familie zu spüren, die im ländlichen Reihenhaus ihr Glück suchte, stattdessen jedoch nichts weiter als die geballte Unwirtlichkeit fand. Der angrenzende Wald sei noch vermint, in den Eisenpfählen der Wäscheleinen sind noch die Einschusslöcher der letzten Kämpfe zu sehen. Der Garten der Familie bleibt als einziger unfruchtbar und kahl, das Haus schimmelt vor sich hin und die Dorfbewohner sind abweisend. Ihr zweites Kind will die junge Mutter hier nicht aufwachsen sehen. Bevor ihnen die Kraft ausgeht, treten sie die Flucht zurück in die Stadt an. Zugegeben, das wirkt nicht gerade gespenstisch und erinnert bisweilen an Stephen Kings Shining – das abgeschiedene Hotel erbaut auf einer indianischen Begräbnisstätte.
Etwas merkwürdig mutet es da an, dass die Autorin nur in dieser Geschichte darauf hinweist, dass „für diesen Bericht einige Namen und Orte verändert [wurden]. Fast könnte man meinen, es handle sich um Fiktion. Das dient der Familie, die das erlebt hat, zum Schutz.“ Ja klar, Zwinkersmiley, möchte man fast sagen. Never trust a stranger, schon gar nicht einem Erzähler, auch nicht, wenn dieser sich von vornherein als die Autorin zu erkennen gibt. Die Moderne hat uns nicht nur gegenüber dem Paranormalen und Metaphysischen skeptisch werden lassen, sondern auch vor der Literatur. Dass diese Skepsis auch im Falle Sarah Khans angebracht ist, vermitteln Sätze wie der folgende. „Diese Handlungen [der Spuk der Gespenster – Anm. d. Autors] sind feste Bestandteile unserer kulturellen Vorstellungswelt, die wir in der Literatur ausleben.“ An anderer Stelle gibt Khan selbst zu, dass ein gewisses Motivrepertoire in Geistergeschichten immer wiederkehrt: stehengebliebene Uhren, Spiegel, Stimmungswechsel, besonders emotional sensible Tiere (vor allem Katzen) und natürlich allerlei Geräusche; so auch hier.
Heißt das also, Khans Geschichten sind ausgemachter Mumpitz? Nun, Die Gespenster von Berlin lehren uns eins: man sollte nie „voreilig allzu vernünftige Schlüsse ziehen“. Wie schon erwähnt, liegt der große Reiz des Buches in den Recherchen der Autorin. Hier gelingt es ihr am besten Spannung und oftmals auch Grusel zu erzeugen. Vor allem der Bericht ihrer Geisterjagd im Bethanien schafft es mit seiner atmosphärischen Dichte den Leser ganz eng an sich zu binden. Darüber hinaus verdeutlicht Khan, dass der Gespensterglaube oftmals dicht an den realen Horror der Zeitgeschichte gebunden ist und eine gewisse Sensibilität für das Paranormale uns viele Geschichten unserer Umwelt entdecken lassen kann. Wie wahr oder unwahr diese Geschichten sind, spielt letztendlich eine untergeordnete Rolle, solange sie für Erkenntnis und Unterhaltung gleichermaßen sorgen. Um das zu garantieren, scheinen Khans Geschichten meist absichtlich im Unbestimmten abzubrechen. Das Unheimliche soll schön verschlossen bleiben. Es aufzudecken könnte unschön sein. „Es könnte nicht gefallen, es könnte sich schal anfühlen.“
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