Ostergewitter - Blitze räumen auf
Was aus der Ferne betrachtet aussieht wie ein Wurzelgeflecht könnten auch verästelte Adern sein oder gar einen Blitz, oder doch eine anschauliche Skizze aus dem Bereich der Neurologie. Alles nicht ganz abwegig, und Saskia Fischers Debütroman „Ostergewitter“ lässt viele Deutungen zugleich zu. Über gut 200 Seiten bewegen sich die Gedanken der Protagonistin Aleit tatsächlich assoziativ, rhizomatisch sozusagen. Es geht um Verwurzeltsein, Herkunft, Geschichte, aber auch Neurologisches, beinahe Krankhaftes. Der Trigger für eine Kaskade von Gedanken schlägt de facto ein wie Blitz: Aleit erleidet, inmitten ihrer Familie, einen epileptischen Anfall. Es ist eigentlich ein schöner Ostersonntag, aber jegliche Restidylle wird in den folgenden sieben Tagen getilgt.
Flashbacks und Gegenwart geben sich zeilenweise die Klinke in die Hand, eine Beobachtung löst die nächste Erinnerung aus, die wiederum vom nächsten Geschehnis im Jetzt verdrängt wird. Was zuerst wie ein wirres Mash-Up von Eindrücken, Reflexionen und Rückblicken aussieht, fördert immer mehr Erzählstränge zutage, die sich zu einem Gesamtbild verdichten: Da wäre die Kindheit Aleits in der DDR, die schemenhaft vorhandene Phantomfigur des Vaters, der bald vom eigenbrötlerischen Feindtling abgelöst wird. Die verhärmte, pragmatische Mutter und Aleits Halbschwester Rikje, die sich deutlich besser im Leben zurechtfindet als sie, die – oberflächlich betrachtet – richtigen Entscheidungen getroffen hat. Da ist Christian, mit dem sie noch eine Wohnung teilt, nicht aber mehr ein Bett – und als sie es doch tun, ist es schon zu spät. Da ist die Tochter Amina, der vielleicht einzige emotionale Fixpunkt, den Aleit hat. Da wäre auch die angefangene Dissertation über – bezeichnenderweise – Diktatoren und – eigentlich noch viel bezeichnender – Vergangenheitsbewältigung, mit der Aleit partout nicht vorankommt.
Dem Anfall folgen noch weitere. Doch nicht nur die Symptomatik einer Epilepsie zeichnet sich immer deutlicher ab. In den frei dahin fließenden Gedanken Aleits werden die Brüche immer offensichtlicher, die ihr Leben bestimmen. Immer mehr in den Vordergrund schiebt sich die Figur Feindtlings, der seine Stieftochter über Jahre lang missbraucht und ausgenutzt hat während die Mutter schwieg. Um ihre Tochter zu schützen, entscheidet sich Aleit – immer wieder niedergeschlagen von Anfällen, die sie buchstäblich in Ohnmacht versinken lassen – dafür, mit allem zu brechen. Mit dem bedrohlichen Feindtling und den Mitwisserinnen, der Mutter und Rikje. Mit Christian, mit dem sie seit Jahren keine richtige Beziehung mehr führt, der die meiste Zeit im Keller hockt, kifft, Pläne schmiedet. Der Entscheidungsprozess entwickelt sich allmählich, subtil, und es ist faszinierend daran teilzuhaben. Fischer schafft es, aus dem Kopf ihrer Protagonistin heraus glaubhafte Charaktere und eine ausdifferenzierte Welt zu entwickeln, spinnt aus beliebig erscheinenden Randgängen ein dichtes Netz.
„Ostergewitter“ ist mit einer seltenen Brillanz geschrieben. Nicht nur, dass es Fischer gelingt mit Aleit eine absolut authentische Figur zu schaffen, sie verliert sich auch in keinen Klischees. Nostalgie, Pathos und emotionaler Aufruhr sind rar gesäte Eigenschaften, ihnen stehen Aleits Sinn für Humor, ihr beißender Zynismus wie auch ihre trockene Sachlichkeit entgegen. Es gibt in der Welt, auf die Aleit schaut, keine Schwarz-Weiß-Trennung, alles ist irgendwie miteinander verflochten – das Cover findet seine narrative Entsprechung. Fischer vollzieht in ihrem Roman keine nach Empathie lechzende Tragödie nach, versucht sich nicht an einer Empowerment-Anleitung. Ebenso wie sie Aleit nicht in Nostalgie schwelgen noch die Kindheitserinnerungen von den nüchternen Betrachtungen der Historikerin überlagern lässt.
Zwischen den Oppositionen bewegt sich „Ostergewitter“ also mit einer sprachlichen Intensität, die Ihresgleichen sucht. Die lebensnahen, unverkitschten Gedankengänge Aleits, die spannenden Figurenkonstellationen, das alles entfaltet sich langsam, fordert viel Einfühlungsvermögen ein, bietet aber auch viele Identifikationsmöglichkeiten. All die häufig bemühten Themen, die Fischer in ihrem Roman verarbeitet, sie drängen sich nicht auf und viel wichtiger noch: Lassen Entscheidungsmöglichkeiten. Das macht „Ostergewitter“ stark, der Roman versteht sich nicht als Anklage, nicht als Klage oder Fallstudie. Im Zentrum dieses kongenialen Debüts steht eine Figur, die sprachgewaltig durchleuchtet wird, mit einer Eindringlichkeit, die noch lange nachwirkt.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben