Musik aus der Schmelze
Uff! 432 Seiten sind ein gewichtiger Brocken, auch wenn man bei einem zweisprachigen Buch natürlich die Hälfte rechnen muss. Vor mir liegt „Die Amsel von Glanmore“, eine englisch-deutsche Ausgabe mit Gedichten des irischen Lyrikers und Nobelpreisträgers Seamus Heaney. Sie ist in diesem September im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen, herausgegeben von Michael Krüger, und versammelt ausgewählte Gedichte aus 11 Einzelausgaben von 1966 bis 2006. Nach diesen Ausgaben ist das Buch auch gegliedert. Die jeweiligen Übersetzer sind im Inhaltsverzeichnis mit Kürzeln hinter den Gedichttiteln angegeben. Beigegeben ist die Nobelpreisrede des Dichters von 1995 sowie ein Nachwort von Michael Krüger. Preis € 16,99 (einen Cent würde ich freiwillig dazugeben)
Für den Umgang mit diesem Buch habe ich mir zunächst die Verpflichtung auferlegt: erst von vorne bis hinten durchlesen, als normale Verbraucherin und Kundin des Dichters. Kein Klappentext, kein Wikipedia, kein Nachwort, kein aufbewahrter Zeitungsartikel, auch nicht nachlesen,was ich selber vor Jahren über eine ältere Ausgabe geschrieben habe. Einzige Abweichung vom Vorsatz: ich spinxe mal eben in die Nobelpreisrede. Bereits im ersten Absatz kommt ein Eimer vor. Bravo. Meine Laune hebt sich. Das ist mein Mann!
Vom Schreibtisch schaut er mich aus drei verschiedenen Fotos an: einmal wie mitten in konzentriertem Grübeln, einmal als misstrauischer Bär aus der Deckung kniepend, dann als mager gewordener alter Mann mit fragend geöffneten Augen, aber immer umloht von seiner weißen Mähne.
Wo anfangen bei diesem reichen, sich über Jahrzehnte erstreckenden Werk? Vielleicht beim Eimer. Die konkreten Dinge, vor allem die vertrauten Geräte aus dem bäuerlichen Umfeld seiner Jugend, sind immer anwesend, als Objekte der Wahrnehmung, als Anker, als Ausgangspunkt für weitläufige poetische Operationen. Und mit dem Durchwandern der Gedichte wird klar: er liebt sie. Man spürt die tiefe Solidarität mit den häuslichen und landschaftlichen Gegebenheiten seiner Heimat, mit ihren oft skurrilen Menschen samt ihren für den Kinderblick befremdenden Gewohnheiten. Das allein macht natürlich noch keinen Lyriker, es könnte auch zum behaglichen Erzählen führen. Davon ist Heaney weit entfernt. Er führt uns vielmehr unversehens ins Gestrüpp labyrinthischer Beziehungen und verzwickter Gedankenpfade.
Dennoch hier ein kleiner Katalog: Es kommen u.a. vor: Kartoffeln, Bettlaken, Küchenstühle, Spaten, Kochlöffel, Kohle, Asche, Buttermilch, Kuhmist, Torf, Vaters Eschenstock (mehrmals), Karren, Kinderwagen, ein Messbuch, ein Sofa – genug? Lauter Dinge, die man in den meisten zeitgenössischen Gedichten nicht antreffen würde. Dazu die Elemente seiner oft düsteren irischen Heimat: Acker und Moor, Wind, Wolken, Regen, Meer, Bäume und Sträucher.
Wie aber geht er nun mit ihnen um? Oft fängt ein Gedicht scheinbar harmlos mit einer sachlichen Feststellung an: Es ist Dezember in Wicklow – Einmal frühmorgens traf ich Schützenpanzer – Inishbofin an einem Sonntagmorgen. Dann rückt der Blick den Dingen und Vorgängen unerhört nah auf den Leib, um sie zugleich für große Lebens-Hintergründe durchsichtig werden zu lassen. Der Dichter kommt hierin sich selbst und seiner Wahrnehmungsweise auf die Spur, wobei sich oft auch eine poetologische Aussage ergibt. Das Gedicht „Markierungen“ beginnt: Wir markierten das Spielfeld: vier Jacken als vier Torpfosten, / Das war alles.“ Von der dörflichen Fußball-Szene kommt es zu ganz anderen Markierungs- und Grenzlinien, um dann eine Gesamtstruktur, einen Lebenszusammenhang zu finden: All diese Dinge traten in dich ein, / Als wären sie zugleich die Tür und das, was durch sie kam. / Sie markierten die Stelle, markierten Zeit und hielten sie offen. Das Gedicht endet aber nicht mit dieser lehrhaften „Summe“, sondern kehrt zu einem konkreten Bild zurück. Heaney liebt die Verschränkung und Mischung. So bleiben die Hagelkörner in dem gleichnamigen Gedicht bis zuletzt als solche anwesend, während sie sich zwischendurch zu allerhand Metaphorischem ausweiten: ähnlich wie das Kind aus ihnen einen kleinen nassen Ball presst, formt der spätere Dichter etwas aus der Schmelze des Wirklichen. Die Hagebuttenlaterne, die selbst schon als Metapher brennt, provoziert den Umschlag des Blicks in eine neue Ebene, so dass der Beobachter sich plötzlich selbst unter Beobachtung und einem Anspruch ausgesetzt fühlt.
Die eigenen Bildungserfahrungen, klassische Dichter, angeschaute Bilder und Bauwerke sind ihm greifbar und treten hier und da zwanglos in einen Dialog mit dem lyrischen Ich. Geradezu klassisch wären seine lyrischen Formen nicht zu nennen, aber schon am Druckbild sieht man den zumeist regelmäßigen Bau mit sehr häufig dreizeiligen, auch zwei-vier- oder fünfzeiligen Strophen. Es ist hier nicht der Ort, der Funktion der Stropheneinteilung im einzelnen nachzugehen. Was aber deutlich wird ist der entschiedene Formwille. Zuweilen baut er (wenn auch ohne das Reimschema) ein Sonett nach Shakespeare-Art mit den beiden gereimten Endzeilen; reizvoll, wenn das auch im Deutschen klappt. Der Blankvers scheint ihm im Hinterkopf zu wohnen, denn immer wieder mal gaubt man ihn zu hören. Dann ist er wieder weg.
Zu den Prägungen seiner Jugend gehören Religion und Bibelkenntnis. In dem Gedicht „Das Oberlicht“, fühlt der Sprecher sich von dem neu ins Dach gebrochenen Fenster sofort an die Geschichte aus dem Neuen Testament erinnert, in der ein kranker Mann durchs Dach zu Jesus hinabgelassen wird.
An dieser Stelle eine kleine Anmerkung zur Übersetzung: Ich sah im Original „skylight“, was sowohl Oberlicht als auch Dachfenster heißt, aber nur als letzteres macht es hier Sinn. Nun fühle ich mich eigentlich nicht kompetent, die Übersetzung im Ganzen zu beurteilen. Aber ein wenig misstrauisch wurde ich schon und fand noch einige weitere Unstimmigkeiten. Auch bemerkte ich gelegentlich eine Tendenz zu leicht preziöserer Wortwahl als sie das nüchterne Original nahelegt. Warum heißt at dusk „in Dämmerungen“ oder under the hedge „im Winkel der Hecke“? Ist stethoscope ein „Abhörstab“? Und wenn ein englischer „Hansel“ Kieselsteine aufliest, um den Heimweg zu finden, so ist es im Deutschen der Hänsel, nämlich der von Hänsel und Gretel.
Aber man darf angesichts der enormen Schwierigkeiten der Lyrikübertragung nicht kleinlich sein und „fünf Beine auf ein Schaf verlangen“. Ohnehin muss man sich damit abfinden, dass fremdsprachige Lyrik nicht unmittelbar ins Gehör des Lesers eintritt. Man hört, und mit einiger Mühe versteht man auch, aber es ist ein bisschen, als ob man mit Messer und Gabel die Form eines Apfels befühlen wollte – eine trennende Schicht wird bleiben. Ganz abgesehen von einigen sehr speziellen Landschafts- und Eigennamen, die für Nicht-Iren erläuterungsbedürftig sind. Der Hanser-Band „Electric Light“ von 2002 hatte hilfreiche Anmerkungen. Die gibt es hier leider nicht, zum Beispiel zu in Gedichten erwähnten Ereignissen aus dem Nordirland-Konflikt, der den Dichter sehr umgetrieben und belastet hat.
Dennoch ist dieser Band sehr geeignet, einen faszinierenden Dichter kennenzulernen. Vom Umschlag schaut eine schwarze Amsel den Betrachter aufmerksam an. Ist es die Freundin aus dem heimischen Garten, die den Abschluss des Bandes ziert, oder doch der Vogel aus der Legende des heiligen Kevin? Denn dem erging es, wie im Gedicht dargestellt, folgendermaßen:
Der heilige Kevin und die Amsel
Und dann gab's noch Sankt Kevin und die Amsel.
Der Heilige kniet, die Arme ausgebreitet,
In seiner Zelle, doch die Zelle ist eng, und soRagt eine Hand weit offen aus dem Fenster, kreuz-
balkenstarr, als eine Amsel darauf landet
Und legt und sich zum Brüten niederläßt.Er spürt die warmen Eier, die kleine Brust, das
Weggesteckte Köpfchen und die Krallen, und
So in das Netz des ewigen Lebens eingebunden,Fühlt Kevin Mitleid: Jetzt muß er seine Hand
Wie einen Ast in Sonne und Regen halten, wochenlang,
Bis die Vögelchen geschlüpft, flügge und ausgeflogen.
Ob hier unterschwellig ein allegorisches Bild vom Künstler und seiner mühevollen Aufgabe mitgemeint ist – das können wir uns anhand der zweiten Gedichthälfte überlegen.
Fixpoetry 2011
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