Der zweite Blick
„Vögel geben keine guten Ornithologen ab“. Diesen 1952 geäußerten Satz des Malers Barnett Newman zitiert Silke Scheuermann im ersten Essay ihres neuesten Buchs und begreift ihn als Auftrag, Stellung zu nehmen zur breit diskutierten Frage, ob DichterInnen überhaupt imstande seien, die eigene Poetik in Worte zu fassen und somit zu vermitteln. Was befähigt SchriftstellerInnen, sich zu eigenen Texten/Gedichten und jener der KollegInnen zu äußern, oder, um noch einen Moment im Reich der Vögel zu verweilen: Was kann ein Spatz über sich selbst oder das Krächzen eines Raben erzählen, was eine Lerche über ihren Gesang oder den einer Amsel oder eines Zaunkönigs? Scheuermann präzisiert ihr Vorhaben mit einem Zitat aus dem Gedicht „Winterpalast“ von Paavo Haavikko, das sie ihrem Text voranstellt: „Und ich fragte den Vogel der ich selber bin“.
... Vögel kennen sich mit der Sonne, den Richtungen und dem Wind aus; sie besitzen ihr Gespür, ihre Techniken, kennen ihre Möglichkeiten und Grenzen. Genau wie die Dichter. Und Poeten bewegen sich wie Vögel gemäß einer inneren Landkarte. Dies zu beschreiben ist zumindest den Versuch wert.
„Und ich fragte den Vogel“ ist eine Sammlung von 33 Essays, wobei 28 bereits andernorts erschienen sind, die meisten, nämlich 16, in der Frankfurter Anthologie, 7 in Volltext (Zeitung für Literatur), der Rest verstreut und nur fünf sind eigens für dieses Buch geschrieben worden.
Die ersten drei Essays sind Versuche, sich dem eigenen Dichten zu nähern, wobei schon der Untertitel des ersten „Wie Gedichte entstehen“ als Aussage und nicht als Frage formuliert ist. Auch Scheuermann weiß, dass nur wenige Gedichte entstehen, sondern meist gemacht sind. Sie will sich der Besonderheit des Entstehungsprozesses von Gedichten und deren Entwicklungsgeschichte widmen. Gedichte entstehen. Punkt. Doch wie?
Scheuermann geht von jenen DichterInnen aus, die für ihr eigenes Lesen und Schreiben Gewicht hatten, erwähnt Sylvia Plath als eine (wenn nicht die) Lieblingslyrikerin, erste Prägungen durch Inger Christensen, Hertha Kräftner, Ingeborg Bachmann oder Nicolas Born, ihr wichtige SchriftstellerInnen wie Emily Dickinson, Virginia Woolf, Anne Sexton, aber auch Gertrud Kolmar oder Elfriede Jelinek. Es gelingen knappe, intensive Betrachtungen über den Traum vom perfekten Gedicht, über Disziplin und Zufälle, Glück und Scheitern, Erfolg und Liebe sowie Verwandlungen im Ringen um Authentizität. Und immer wieder stellt sie auch die Frage nach dem Preis, den man für das Schaffen von Kunst zahlt, den Krisen, der selten erreichten Zufriedenheit.
Ein wichtiger Ausgangspunkt für Scheuermanns Dichten ist das Sehen, jenes Sehen und Aufzeichnen von Fülle und Leere:
... für mich darf auch das Gedicht nicht ganz den Rückbezug zur sichtbaren Realität verlieren, reines Sprachspiel und sich selbst genug sein, sondern es muss eine gewisse Objektivität haben. Dazu gehört, den Abstand zwischen der Wirklichkeit und ihrer Abbildung mitzubedenken. ... So lese ich Lyrik, das ist mein Kriterium: Zeigt mir dieses oder jenes Gedicht, wie ich in der Sprache sehen kann?
Und etwas später:
Lyrik, die gelingt, ... erreicht eine Darstellung von Zwischenzuständen, einem somnambulen Bewusstsein, halb berauscht und gleichzeitig scharf konturiert, todunglücklich und jubelnd zugleich.
Es ist nicht mehr als ein Antippen, das in der Kürze dieser Texte möglich ist, ein Öffnen kleinster Türchen, das einen kurzen Blick in das poetologische Stübchen der Scheuermann gewährt. Ergänzt werden diese lyrischen Momentaufnahmen durch Anmerkungen in den anderen Essays, in die die Lyrikerin immer wieder Statements über das eigene Schreiben einfügt, etwa über Techniken des (richtigen) (Ver)Schweigens beim Dichten und Erzählen, über Mehrdeutigkeiten oder „ Das uralte Paradox der Dichtung ... das Unendliche zu zeigen – im Augenblick.“
Thema fast aller hier vorgelegten Texte sind jedoch die anderen, andere Dichterinnen und Dichter, sind Auseinandersetzungen mit einzelnen Gedichten, Gedanken hierzu, Interpretationen, von unterschiedlicher Länge und Gewicht der Aussage.
Einer der eindrücklichsten Beiträge, für den ob seiner Länge und Dichte der Terminus „lyrischer Moment“ zu kurz greift, ist die Auseinandersetzung mit Helga M. Novaks Liebesgedichten, ein Essay, der 2010 geschrieben und 2015 überarbeitet wurde. Scheuermann stellt einige von Novaks Gedichten vor, einschließlich einiger Wilderergedichte, setzt sie in Beziehung zueinander und zum Leben der Lyrikerin.
Die meisten Beiträge dieses Buchs sind hingegen wesentlich kürzer. Es sind Interpretationen Scheuermanns von Einzelgedichten, Betrachtungen über Dichterarbeitsplätze (E.T.A. Hoffmanns Poetenstübchen versus Wolfgang Hilbigs Heizkeller), Briefwechsel (Bishop-Lowell und Celan-Bachmann) oder „malende Dichter“. Immer wieder gelingen Scheuermann stimmige Miniaturen, weiß sie ihren Standpunkt schlüssig darzulegen. Nur manche Texte bleiben argumentativ dürftig, kratzen lediglich an der Oberfläche und die Autorin hätte manchem Gedicht ruhig mehr interpretatorische Substanz verleihen können. Vielleicht ist es dem Platzmangel, der vorgegebenen Zeichenzahl in jenen Medien geschuldet, für die Scheuermanns Texte ursprünglich geschrieben wurden. Auffallend, dass die Autorin sich vor allem zu älteren, allgemein bekannten LyrikerInnen äußert, viele davon schon verstorben und wiederholt anderswo Anlass für literarische Abhandlungen oder Gedichtinterpretationen. Es wäre interessant, so dachte ich mehrmals beim Lesen, auch einmal Scheuermanns Gedanken zu jüngeren Dichtenden, z.B. jenen in ihren Zwanzigern, Dreißigern, und ihren Texten lesen zu können.
Das große Verdienst Scheuermanns ist die leicht lesbare, flüssige Sprache, mit der sie ihre Betrachtungsweisen von Gedichten näher bringt. Hier werden keine unüberwindbaren Lesehürden aufgebaut, die Texte sind auch für nichtakademische und mit Lyrik nicht so vertraute Menschen versteh- und daher annehmbar, was für die Breitenwirkung von Gedichten nur vorteilhaft sein kann. Manchmal schießt die ausgewiesene Lyrikerin allerdings übers Ziel und ihr Hang zur Phrase und zu manch platter Sentenz ist dem Lesevergnügen abträglich. Formulierungen wie „Sie stehen als Ganze für das Ganze“ oder „Dichtung schafft ihre eigene Wirklichkeit“ hätten nach kritischer Lektüre zumindest auffallen und durch weniger Beliebiges ersetzt oder durch präzisierende Erläuterungen ergänzt werden können. Am Störendsten ist für mich dann allerdings folgende Sequenz:
Ja, es war nötig, dass Sylvia Plath sich umbrachte, um ihre letzten Gedichte zu schreiben. Die Entwicklung war in ihre angelegt wie ein bösartiges Computerprogramm.
Als Ärztin, die nicht an Wiedergänger und Gespenster glaubt, halte ich fest, dass Tote keine Gedichte schreiben, auch keine letzten. Und der abstruse Vergleich mit einem „bösartigen“ Computerprogramm setzt noch eins drauf, wird in seiner flapsigen Ungenauigkeit den vielen Nöten Sylvia Plaths nicht gerecht. Doch es ist letzendlich ein kleinlicher Einwand gegen ein Buch, das Gedichte wertschätzend in den Mittelpunkt rückt, das hoffentlich LeserInnen finden und der Lyrik nicht nur Silke Scheuermanns ein wenig Aufmerksamkeit bringen wird.
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