Mad Max
So wenig die bunt zusammengewürfelten Charaktere in Simone Meiers neuem Roman „Fleisch“ auf den ersten Blick gemeinsam haben mögen, eines eint sie: ihnen fehlt die „große Linie“. Sprich: Sie haben sich gegen den klassischen Weg der Familiengründung und Fortpflanzung entschieden. Oder diesen einfach noch nicht eingeschlagen. So stehen sie tagtäglich von neuem vor der Aufgabe, ihrem Dasein einen Sinn abzuringen. Irgendeine „Linie“ muss es schließlich geben, ansonsten bestünde das Leben ja nur „aus One-Night-Stands und Facebook-Posts“. Über diese und ähnliche Fragen zermartert sich Anna das Hirn, während sie unaufhaltsam ihrer Midlife-Crisis entgegenschlingert. Ihr Job hat diffus mit Kultur zu tun (vor allem scheint es darum zu gehen, Fördergelder zu verteilen und sich auf diversen wichtigen Events blicken zu lassen); ihr „Begleitfreund“ Max, den sie seit der Schulzeit kennt, langweilt sie seit geraumer Zeit. Von ihrem Körper hat sie eigentlich auch genug – nur von dem kann sie sich leider nicht trennen. Tja, das leidige Fleisch. Dies ist natürlich die Klammer, die den Plot zusammenhält, man könnte auch sagen: „die große Linie“ dieses schmalen Romans. Schaut Anna in den Spiegel, sieht sie nicht mehr sich selbst, sondern „ihre Mutter, ihre Tante, ihre Großmutter, ja sogar ihre Urgroßmutter. Die plötzlich alle von ihr Besitz ergriffen“. Wie hier eine weibliche Generationenfolge in Zusammenhang gebracht wird mit Körperidealen, Erwartungshaltungen, Unterdrückung und Emanzipation, erinnert durchaus ein wenig an Gertraud Klemm und all jene zynisch-scharfsichtigen Feministinnen, auf deren Schultern Klemm & Co. stehen.
Auch totes Fleisch inspiziert Meier eingehend, insbesondere das auf Annas Teller. Ihren Mangel an lebendiger Fleischeslust pflegt die Hauptfigur mit einer Unmenge an Pasteten, Entrecôte und Rindstartar auszugleichen, vorzugsweise in Begleitung ihres schwulen besten Freundes, und in ihrem Lieblingsbistro, in dem die gertenschlanke Lilly kellnert. Es ist wohl nicht übertrieben, hier von oraler Ersatzbefriedigung zu sprechen: „Wenn sie zum Beispiel an schöne Kindheitserlebnisse dachte, sah sie sich unweigerlich in einer Metzgerei stehen und ein Stück Wurst essen, das ihr der Metzger zugesteckt hatte.“
Es dauert ein wenig, bis Anna klar wird, dass sie sich ziemlich in Lilly, diesen „Grashalm mit Gesicht“, verguckt haben muss. Kein Wunder, denkt sich die Leserschaft, serviert die ihr doch all die fleischigen Leckereien. Dass Lilly eine Frau ist, stellt für Anna ein weitaus geringeres Problem dar als der Altersunterschied von siebzehn Jahren. Was soll eine 27-Jährige an diesem erschlaffenden, auseinandergehenden Körper finden, den sie gezwungen ist, mit sich herumzutragen?
Tatsächlich jedoch hat Lilly ebenfalls ein Auge auf Anna geworfen, sieht sie in ihrer Lieblingskundin doch weniger die Fältchen und Fettpolster als vielmehr eine äußert anziehende Mischung aus Jean Seberg und Cate Blanchett. Bevor sich allerdings auch nur ein Flirt anbahnen kann, hat Lilly mit diversen anderen Problemchen zu kämpfen. Zum Beispiel ihrem etwas absonderlichen 15-jährigen Bruder, den die alten Eltern zu ihr in die Stadt abgeschoben haben, um daheim dem Dorfklatsch zu entgehen. Jonas tut so ziemlich alles, was man als gelangweilter Teenie auf dem Dorf eben so macht: Sich die Arme aufritzen, Bilder mit Kacke malen, einem älteren Pärchen schwülstige Liebesbriefe schreiben.
Und dann ist da ja noch der abservierte Max. Auch der hat sich fest vorgenommen, in seiner Lebensmitte so richtig auszubrechen aus seinem öden Lehrerdasein. Als erstes verschlägt es ihn ins Rotlichtviertel, dann in Sues Bett. Sue wiederum ist die Mitbewohnerin von Lilly und Jonas, „schillernd und schrill, ein Wirbelsturm aus Glitter und falschen Haarteilen“, und eigentlich lesbisch – doch für 300 Schweizer Franken pro Stunde geht sie durchaus auch mal mit einem Mann ins Bett.
Wie man sieht, ließe sich problemlos eine ganze Rezension mit der bloßen Aufzählung all der exzentrischen Figuren füllen, die Meier hier à la „Big Brother“ oder „Dschungelcamp“ aufeinanderprallen lässt. Ganz offensichtlich hatte Meier einen Heidenspaß mit der Erfindung aberwitziger Konstellationen und Verflechtungen. Und den hat man als Leser_in zunächst durchaus auch. Doch erschöpft sich dieses Feuerwerk an Skurrilität irgendwann. Zumal eine irgendwie plausible Story dabei auf der Strecke geblieben zu sein scheint. Viele Themen werden angerissen, wenig wirklich vertieft: Hier und da ein paar feministische Überlegungen, ein bisschen Casting-Show-Bashing, eine Prise Beziehungsanalyse. Natürlich geistert das Fleisch, das tote wie das lebendige, überall durch den Roman. Von der verwesenden Ratte im Keller über den Schönheitschirurgen, der im Hallenbad „wie ein Piranha auf der Suche nach Futter“ durchs Becken pflügt, bis hin zum Vergleich eines männlichen Genitals mit einem „besonders schönen Stück Kalbfleisch“. Nichtsdestotrotz bleibt bei aller Überpräsenz des Fleischlichen der Eindruck einzelner Gedankenfragmente und loser Fäden, die mehr oder minder zusammenhanglos aus dem Text heraushängen.
Im letzten Drittel des Buches schließlich kippt der überdrehte pansexuelle Reigen unvermittelt in Richtung Psychothriller. Dass ein Sitcom-mäßiger Showdown in der kakerlakenverseuchten WG-Küche von Lilly, Jonas und Sue als literarischer Höhepunkt nicht ausreicht, mag Meier sich gedacht haben. Also lässt sie den alternden Antihelden Max kurzerhand durchdrehen. Nichts gegen die subtilen Fährten, die in Richtung Wahnsinn weisen: Ominöse Risse durchziehen sein Sofa, tote Kakerlaken und getrocknete Würmer tauchen in seiner Aktentasche auf. Max entwickelt eine ausgewachsene Paranoia, die sich zunächst vor allem gegen Anna, dann gegen so ziemlich alle Frauen richtet. So weit, so spannend. Doch Meier dreht weiter an der Psycho-Schraube, und das tut dem Roman nicht gut: Ein aufgepfropfter Erzählstrang, der dem Text Drive geben soll, letztendlich aber unausgegoren wirkt.
Ein Emanzipations-Verlierer, der dem Wahnsinn verfällt? Ein anschauliches Beispiel zum „Ende der Männer“? „Er wusste, wie Frauen das machten, wie sie die Männer verunglimpften, verleumdeten, sich selbst als Opfer darstellten“, fantasiert Max an einer Stelle vor sich. Diese Möchtegern-Umkehr der Herrschaftsverhältnisse hätte gut und gerne Stoff für weitere 250 Seiten abgegeben – als Pointe des vorliegenden Romans jedoch ist sie verfehlt.
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