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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

In den Ritzen, den Spalten der Geschichte

Sofia Andruchowytsch schlüpft mit ihrem Roman "Der Papierjunge" zurück in die ukrainische Habsburgerzeit
Hamburg

Als Aktivisten im Winter 2013 den Maidan-Platz im Zentrum Kiews besetzten, waren die ukrainischen Intellektuellen und Künstler bass erstaunt. Eilig suchten sie sich der Protestbewegung, die als „Euromaidan“ in die Geschichte eingehen sollte, zur Seite zu stellen und wählten nicht umsonst Juri Andruchowytsch zu ihrem Sprecher. Allein schon die Tatsache, dass er aus dem Westen des Landes stammt und auf Ukrainisch schreibt, schien ihn für eine Führungsrolle in der Euromaidan-Bewegung zu prädestinieren. Doch der Autor und seine Intellektuellen blieben weitgehend Zaungäste des Geschehens. Weit davon entfernt, zu einer einigenden moralischen Symbolfigur zu werden, kehrte Andruchowytsch schließlich wieder in seine waldige Karpatenheimat zurück.

Dort, in Iwano-Frankiwsk, vollendete seine Tochter Sofia um diese Zeit gerade einen Roman, der mit den aktuellen politischen Geschehnissen auf den ersten Blick nichts zu tun zu haben schien: „Felix Austria“, wie das Buch in der ukrainischen Originalausgabe heißt, entführt gewissermaßen in den historischen Zwilling von Iwano-Frankiwsk. In der k. und k.-Zeit nämlich hieß die Heimatstadt der Andruchowytschs Stanislau und gehörte, wie Lemberg auch, zum Teilkönigreich Galizien und Lodomerien. Die Erzählerin, das Dienstmädchen Stefa, malt mit Buntstiften, wenn sie das Völkergemisch dieses Kronlands beschreibt, die Polen, Huzulen, Juden, Deutschen, die sich auf den engen, schlammigen Gassen von Stanislau begegnen, und manchmal greift sie zum Bleistift und skizziert, wie der technische Fortschritt das Städtchen zu verändern beginnt: 

„Es sind schnelle Zeiten, helle Zeiten. Die Fabrikanten Liebermann und Margosches brausen mit einer Geschwindigkeit von fünfzehn Stundenkilometern die Sapiezynskagasse entlang. Wir hatten uns noch gar nicht genug an der wundervollen Gasbeleuchtung erfreut, da erstrahlte unser Bahnhof bereits im elektrischen Licht (…)“

Stefa kann aber auch anders: Geht es um Gefühle – und an Gefühlen mangelt es ihr wirklich nicht – spritzt sie die Farbe fast schon expressiv auf die Leinwand. Sie ist ja schließlich nicht nur der dienstbare Geist Adeljas, der schnippischen, verzogenen Tochter des Hauses, nein, diese Adelja ist genauso alt wie sie und hat mit ihr die Schulbank gedrückt und lange das Kinderbett geteilt. Adelja, die so viel dümmer und ungeschickter, aber auch so viel schöner und liebenswerter ist als sie; Adelja, der sie Schwester wie Mutter wie Magd ist und manchmal, wenn sie ihr die Frisur macht oder ihren ätherisch-durchscheinenden Körper eincremt, vielleicht sogar so etwas wie ihre Geliebte. Und dann kommt dieser Steinmetz Petro, der vor allem Engelsfiguren meißelt, und nimmt ihr dieses vergötterte Wesen einfach weg! Glücklicherweise kann auch Adjela nicht ohne Stefa sein, und so sieht sich der Künstler nach seiner Heirat mit einem Dienstmädchen konfrontiert, das schon einmal den vollen Nachttopf seiner Gattin die Treppe hinunterschleudert. Unvergesslich die Szene, in der ein Gast aus der Vergangenheit das Haus besucht, Josyf, der Stefa vor Jahren scheinbar einen Heiratsantrag machen wollte und von der durchtrieben küssenden Adelja daran gehindert wurde. Das Dienstmädchen hat sich zuvor durch die halbe, in Regen und Schlamm versinkende Stadt gekämpft, um Schleien zu kaufen, kippt das fertige Festmahl aber dann beim Anblick Josyfs und seiner Frau unversehens aus dem Fenster, zurück in sein natürliches Element.

Klug wie sie ist, attestiert sich Stefa bei anderer Gelegenheit einen „hysterischen Kloß (…), einen globus hystericus, die Krankheit schwächlicher, adeliger Frauen.“

An dem damaligen Modeleiden Hysterie zeigt sich exemplarisch Andruchowytschs Vermögen, die Grundbefindlichkeiten der späten k. und k.-Gesellschaft zu fassen. Frauen, die etwas auf sich hielten, taten gut daran, ab und zu in Ohnmacht zu fallen, und so personifiziert Adelja die feinnervige Dekadenz jener ausgehenden Epoche, während Stefa für all jene steht, die von ihrer Lebensuntüchtigkeit und ihrer Verschwendungssucht gleichzeitig abgestoßen wie angezogen sind. Auch die Faszination für das Übersinnliche, Phantastische gehört zu den Kennzeichen der ausgehenden Kaiserzeit, und so gibt es im Papierjungen einen Magier, der im Theater Engel auffliegen und Menschen verschwinden lässt.

Ein Engel scheint auch vom Himmel herabgestiegen zu sein, als in Petros Werkstatt plötzlich ein stummer Knabe auftaucht. Die unfruchtbare Adelja nimmt ihn sofort in ihren Haushalt auf, das heißt sie überantwortet ihn Stefa, die dadurch ausreichend Gelegenheit bekommt, sich zu ängstigen und zu sorgen. Denn der Junge verschwindet oft für Tage und findet sich dann an den unmöglichsten Orten wieder, in Ritzen und Winkeln, Körben und Schüsseln, selbst in Lampenschirmen. Man ahnt es schon, Felix, wie er genannt wird, entstammt der Wunderkammer des oben genannten Magiers. Mir nichts dir nichts zwängt er sich in den Spalt, der sich durch Josyfs Auftauchen zwischen Stefa und Adelja aufgetan hat und beginnt, die symbiotische Beziehung aufzusprengen.

Was ist Illusion und was ist Wirklichkeit im Leben? Ist es nicht so, dass das, was über den Dingen zu schweben scheint, die Liebe zum Beispiel, der Glaube oder auch die gottgegebene Macht eines Kaisers, vielleicht nur auf der soliden, gut verborgenen Metallplatte eines sogenannten Magiers sitzt, so wie das „fliegende Kind“ in Andruchowytschs Eingangskapitel?

Das Schöne an diesem Buch ist, dass weder eine der extremen Emotionen, die geschildert, noch eine der vielen Fragen, die gestellt werden, künstlich daherkommen; dass selbst die gelegentlich stark mit Klöppelspitze verzierte Sprache, die in anderen Büchern abgeschmackt und trivial erscheinen würde, nicht stört, weil sie direkt aus Stefas Gefühlslogik zu kommen scheint. Das Einzige, was den westlichen Leser befremden dürfte, sind die vielen, fast schon heimatkundlich-übergenauen Beschreibungen des Städtchens, aber das relativiert sich wieder, wenn man bedenkt, auf welche Art viele Ukrainer dieses Buch lesen werden: Als eine Selbstvergewisserung des eigenen historischen Erbes nämlich, als Möglichkeit einer Emanzipation von der russisch-sowjetischen Geschichtsschreibung. Sofia Andruchowytschs Vater Juri steht für eine Generation, für die der späte Sowjetkommunismus und die gesellschaftliche Implosion nach der Unabhängigkeit prägend waren; seine Tochter zeigt mit „Der Papierjunge“ auf, wie wichtig das, was längst vergangen scheint, für die Gegenwart sein kann.

Stanislau wurde übrigens erst 1962 in Iwano-Frankiwsk umbenannt, zu Ehren des Schriftstellers Iwan Franko, der in der Nähe geboren wurde. Franko gilt neben Taras Schewtschenko als einer der wichtigsten Begründer der ukrainischen Literatursprache. So ist es vielleicht kein Wunder, dass aus diesem Städtchen immer wieder kräftige literarische Impulse kommen, zuletzt durch den Papierjungen von Sofia Andruchowytsch.

Sofia Andruchowytsch
Der Papierjunge
Übersetzung:
Maria Weissenböck
Residenz Verlag
2016 · 312 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
9783701716630

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