Die Ukraine in nuce.
Die zeitgenössische ukrainische Lyrik ist hierzulande kaum bekannt. Daran hat vorerst auch die erhöhte Aufmerksamkeit für das Land seit der Annexion der Krim durch Russland im Frühling 2014 und dem Beginn des Kriegs im Osten des Landes nichts wesentlich geändert. Am ehesten stößt bei uns noch Serhij Zhadans poetisches Werk auf Resonanz. Der Schriftsteller ist ja auch recht oft in den deutschsprachigen Ländern unterwegs auf Lesereise – mitunter gemeinsam mit Jurij Andruchowytsch, von dem ebenfalls einige Gedichte auf Deutsch vorliegen, auch wenn man ihn bei uns bisher eher als Romanautor wahrnimmt.
Der kleine hochroth-Verlag hat nun in einem überaus schön gestalteten Bändchen zum ersten Mal Gedichte von Vasyl Lozynskyj auf Deutsch vorgelegt. Glücklicherweise sind die insgesamt 16 Texte in „Das Fest nach dem Untergang“ gleichzeitig auch auf Ukrainisch abgedruckt, so dass man hie und da ins Original hineinschauen kann. Vasyl Lozynskyj wurde 1982 im damals noch sowjetischen Lwiw geboren und hat wie manche anderen ukrainischen Autoren der Gegenwart (darunter der erwähnte Zhadan, aber etwa auch Jurko Prochasko) Germanistik studiert. Es lag also vielleicht nahe, dass seine Gedichte alsbald den Weg zu uns finden würden. Lozynskyj hat denn bei der Übersetzung ins Deutsche auch selbst mitgearbeitet. Neben lyrischen Texten verfasst er literaturkritische Texte sowie Essays und überträgt zeitgenössische deutsche und polnische Autoren ins Ukrainische.
Vasyl Lozynskyjs Gedichtband „Svjato pislja debošu“ ist im Original im Jahr 2014 erschienen. In der deutschen Übersetzung ist allerdings ein Gedicht erst mit „Kyjiw, Januar 2015“ datiert. Der Band „Das Fest nach dem Untergang“ ist also offensichtlich in seiner Zusammensetzung nicht ganz identisch mit der ukrainischen Ausgabe. Das ist nicht ohne Bedeutung: Lozynskyjs Gedichte tragen ansonsten nämlich praktisch nie ein Datum. Als Aussenstehender könnte man deshalb versucht sein, manche der Gedichte automatisch in einen (mehr oder weniger) expliziten Zusammenhang mit den allerneuesten Ereignissen in der Ukraine zu stellen, wie die meisten von uns sie in den letzten zwei, drei Jahren vorwiegend via Medien mitbekommen – mit allen möglichen Verkürzungen und Verzerrungen. Das ist nun – wie stets in ähnlich gelagerten Fällen – den Gedichten gegenüber vielleicht ein wenig ungerecht, weil dadurch der Resonanzraum, in dem sie vom deutschsprachigen Leser rezipiert werden, möglicherweise ohne Not und allzu stark eingegrenzt wird. Gleichwohl bleibt es nicht ohne Reiz, bei der Lektüre der paar Gedichte dieses Bandes immer auch den zeitlichen Horizont im Auge zu behalten. Wenn in den Texten vom Kiewer Maidan die Rede ist, so ist damit nämlich nicht automatisch der Euromaidan von 2013/14 gemeint. Im Gedicht „Meine persönliche Revolution“ ist wohl eher die „Orangene Revolution“ 2004 angesprochen, worauf die Farbsymbolik („Orangene“ gegen „Blaue“) hindeuten dürfte. Vielleicht sollen sich die verschiedenen Ereignisse der jüngeren Zeit in der Absicht des Dichters aber auch vermischen, so dass der Maidan gewissermassen zum metaphorischen Brennpunkt der neusten ukrainischen Geschichte wird. Für eine solche Lesart spräche auch das Gedicht „1991“, welches zwar zunächst vom Referendum im betreffenden Jahr handelt, als sich eine grosse Mehrheit für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion entschied. Im Verbund mit den anderen Gedichten scheint allerdings auch dieser Text nachträglich in den poetischen Sog des Maidan zu geraten.
Spätestens an diesem Punkt stellt sich auch die Frage nach dem Titel des schmalen Gedichtbandes: Von welchem Untergang ist denn hier eigentlich die Rede? Ist damit das Ende von Viktor Janukowytschs Regime gemeint, der ja im Februar 2014 quasi aus Kiew „desertiert“ ist? Oder geht es nicht doch um den Zerfall der Sowjetunion? Das deutsche Wort „Untergang“ würde für letzteres sprechen. Allerdings drängt sich hier eine zusätzliche Frage auf: Ist „Untergang“ wirklich die beste – weil treffendste – Übersetzung für den ukrainischen Ausdruck „deboš“? In „deboš“ klingt nämlich eher der semantische Bereich „Randale“, „Rauferei“, „Skandal“, „Radau“ an. Damit wird die oben formulierte Frage gleich noch einmal deutlich ausgeweitet. Sie muss freilich auch nicht unbedingt beantwortet werden. Aber die vielfache Anwendbarkeit des Begriffs aus dem Buchtitel zeigt doch, dass es verkürzt wäre, Vasyl Lozynskyjs Gedichte allein aus der Perspektive der „revolutionären“ Ereignisse von 2013 und 2014 zu lesen. Die Überschrift spielt (in Struktur und Semantik) vielleicht – wenn auch in gewisser Abgrenzung davon – auch auf Alexander Puschkins kleine Tragödie „Das Gelage während der Pest“ (Pir vo vremja čumy) aus dem Jahr 1830 an. Damit geriete aber noch ein weiteres Thema ins Blickfeld: Wie verhält man sich „während der Pest“ oder eben „nach dem Untergang“? Ist es angebracht, in solchen Zeiten zu feiern? Worin genau bestünde dann das Fest? Und was wäre schließlich mit dem „Kater“, der nach den Ausschweifungen vielleicht noch folgen mag?
Jedenfalls wäre davor zu warnen, in Vasyl Lozynskyjs Gedichten nur das Politische sehen zu wollen. Von „politischer Lyrik“ zu sprechen, ist nur insofern korrekt, als der Dichter diese Dimension der gegenwärtigen ukrainischen Wirklichkeit zwar nicht ausser Acht lässt. Sie dient ihm aber eher als Hintergrund, auf dem sich sein lyrisches Ich bewegt. Als politisches Manifest kann man Lozynskyjs Gedichte jedenfalls nicht bezeichnen: Hier werden keine Parolen formuliert oder Forderungen gestellt. Schon eher geht es Lozynskyj darum, nach der besonderen Ausprägung der conditio humana für ein lyrischen Ich zu fragen, das sich in solch stürmischen Zeiten wiederfindet. Hinter diesem konkreten einzelnen Ich der Gedichte darf man vielleicht auch eine gewisse Generationenerfahrung erblicken – nicht umsonst wandelt sich das „Ich“ in den Gedichten manchmal da zu einem „Wir“ (etwa in „Olivier-Salat auf dem Majdan“ und in „Majdan afterhours“). Wer bei Lozynskyj nach eindeutiger Stellungnahme im Hinblick auf die aktuelle Politik sucht, wird kaum fündig. Lozynskyjs lyrisches Ich ergreift zwar hie und da Partei, folgt dabei aber nicht einem einfachen Schwarz-Weiss-Schema. So wissen die Demonstranten auf dem Maidan im soeben erwähnten Gedicht sehr wohl, dass der Olivier-Salat ursprünglich aus Russland kommt – was die Protestierenden aber gleichwohl nicht daran hindern kann, ihn an Silvester auf dem Maidan genüsslich zu verspeisen: Er hatte schon für Generationen von Sowjetbürgern traditionell und alljährlich auf dem Speiseplan für die Neujahrsnacht gestanden. Wer eindeutige Kommentare zur gegenwärtigen Lage in der Ukraine erwartet hätte, mag hier enttäuscht werden. Aber im Grunde genommen liegt das Anziehende an Vasyl Lozynskyjs Gedichten gerade darin, dass der Dichter lieber solche Zwischentöne registriert und protokolliert, statt ein handfestes Urteil zu fällen und sozusagen die poetische Guillotine heruntersausen zu lassen.
Vasyl Lozynskyj nimmt in seinen Gedichten folglich auch den breiteren Kontext wahr, die Szenen und Geschichten, die sich abseits der Scheinwerfer abspielen: So befragt er etwa die Milizionäre (d.h. die Polizisten) nach ihrer Moral („Kyiv Vice: Moralmiliz“); er reflektiert die durchaus zwiespältige Rolle der Oligarchen in der Ukraine („Der Engel von Viktor Pi.“) und analysiert mit leiser Ironie den begehrlichen Blick des Volks nach Europa („EUROPOEM“). Ohne Anglizismen kommt seine Sprache dabei nicht aus. Was die Revolution betrifft (gewiss diejenige von 2014, aber wahrscheinlich auch jegliche andere), macht sich der Dichter hingegen keine Illusionen:
Revolution – das ist ein Konflikt
auf dem Absatzmarkt, simples Kalkül,
kein romantischer Traum.
Im Handumdrehn wird der Verbraucher zum Bürger,
im Handumdrehn ist er enttäuscht von alten Werten
und sucht sich eine neue Ware aus.
So lauten die ersten Zeilen des Gedichtes „Meine persönliche Revolution“.
Vielleicht liegt es an der Vielstimmigkeit und am Impressionistischen der Texte sowie an der Weigerung des Autors, klar Position zu beziehen, dass die Gedichte einen zuweilen auch ein wenig ratlos zurücklassen – zumindest wenn man sie isoliert voneinander liest. Manches bleibt dann im Ungefähren; die Gedichte scheinen sich nur zögerlich voranzutasten. Im Ganzen des Bandes gehen die einzelnen Texte allerdings wiederum auch zyklische Verbindungen miteinander ein. Sie gestalten dann eine Art Panorama der ukrainischen Wirklichkeit seit der Unabhängigkeit des Landes, gewinnen im Wechselspiel miteinander an Deutlichkeit, werden konkreter. Sie zeichnen im Gesamten des Bandes vielleicht sogar eine Art Kürzestgeschichte des Landes in den letzten 25 Jahren nach – quasi eine Ukraine in nuce. Wobei es eben nicht allein um die politischen Meilensteine ginge, sondern auch um die lebensweltlichen Rahmenbedingungen und ganz besonders um den Platz und die Rolle des Einzelnen darin: exemplarisch dargestellt am lyrischen Ich dieser Gedichte. Und dieses Ich inszeniert sich – nicht zuletzt – auch als ein schreibendes.
Aus dem Ukrainischen von Jakob Mischke, Anna Kauk und Beatrix Kersten unter Mitwirkung von Ron Winkler, Uljana Wolf und dem Autor. Frontispiz: Sasha Kurmaz
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