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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Das wahre Leben im digitalen Zeitalter

Solange Bied-Charretons Portrait einer Gesellschaft des doppelten Voyeurismus
Hamburg

Paris, heute: Das soziale Netzwerk ShowYou beherrscht das Leben tagein tagaus. Jeder ist drin. Wer nicht drin ist, existiert nicht. Das Private zum Öffentlichen zu machen ist bei ShowYou Pflicht. Einmal wöchentlich muss jeder Nutzer ein persönliches Video einstellen. Wer den Termin verpasst und dafür kein ärztliches Attest hat, fliegt raus. Jede Woche wird anhand der Likes das erfolgreichste Video ermittelt. Der gnadenlose Krieg um Aufmerksamkeit zerrüttet das Zwischenmenschliche in der realen Welt: Wer seine Ex beim Sex filmt, hat gute Chancen auf den Titel.

Charles Valerien, Anfang zwanzig, angehender Junior-Consultant aus begütertem Elternhaus, richtet gerade seine erste eigene Wohnung ein und inszeniert die alltäglichen Nichtigkeiten für seine ShowYou-Freunde. Die Grillparty einer Freundin wird ebenso geknipst wie der Umtrunk mit den Arbeitskollegen, zu denen Charles allenfalls oberflächliche Beziehungen pflegt. Der eigentliche Event ist nicht das Ereignis im Hier und Jetzt, sondern die später ins Netz geladenen Fotos, die Likes, die Kommentare. Charles beobachtet sich und die anderen, und es geht nur um eines: Das Augenscheinliche muss so gut und überzeugend sein wie möglich.

Charles kennt keinen einzigen seiner Nachbarn persönlich, aber er beobachtet sie durch ihre Fenster, betrachtet ihre Leben allnächtlich als Stummfilm, ebenso wie er sich selbst online betrachtet – auf seinen Bildern und Videos und in den Kommentaren der anderen. Das Urlaubsziel wird nicht mehr nach Interesse ausgewählt, sondern nur noch nach dem maximalen Showeffekt.

Solange Bied-Charreton steigert in ihrem in Frankreich von der Kritik umjubelten Debütroman „Enjoy“, der nun auch auf Deutsch vorliegt (aus dem Französischen von Annemarie Berger, Sujet Verlag), die Idee des Social Networkings ins Extreme und zeichnet dabei ein bedrückendes Bild einer Generation von voyeuristischen, gefühlskalten Wracks. Le Figaro Litteraire verglich die junge Autorin (Jahrgang 1982) gar bereits mit Michel Houellebecq. Ihrem Protagonisten stellt sie dessen zerrüttetes Elternhaus gegenüber: den psychotischen Vater, dessen einziger Lebensinhalt Geld war, und der als gebrochener Mann in einer psychiatrischen Klinik vegetiert, und die Mutter, die all das einfach zu ignorieren versucht. Kompliziert wird es, als Charles sich in die junge Punk-Gitarristin Anne-Laure verliebt, die ihn zwar sympathisch findet, aber an einer Liebesgeschichte nicht interessiert ist. Zu allem Überfluss ist sie nicht auf ShowYou und lehnt den ganzen Social-Media-Firlefanz kategorisch ab. Was die beiden verbindet ist der alternde Schriftsteller und Frauenheld Remy Gauthrin, dessen Bücher Anne-Laure verschlingt, während Charles ihn jede Nacht beobachtet – er wohnt auf der anderen Straßenseite. Doch das behält Charles vorerst für sich.

Das Personal von „Enjoy“ ist einerseits skurril und überzeichnet, zugleich aber immer wieder erschreckend lebensnah. Ob Charles, Anne-Laure, Remy – sie alle sind im Grunde ständig kurz davor, aus dem Fenster zu springen, aber so vertieft in ihre eigene Filter-Bubble, dass ihnen das nicht mal auffällt. Das einzige Glück ist öffentliche Anerkennung – durch eine Buchkritik, durch ein Like, durch das Wahrgenommenwerden, dem nur Anne-Laure sich verweigert. Wer nicht gesehen wird, existiert nicht – folgerichtig beschreibt Charles die Einweisung seines Vaters in die Klinik als dessen Tod in der richtigen Welt. ER ist raus aus dem Leben. Kein Glück nirgends.

„Enjoy“ ist ein außergewöhnlich starkes Debüt, einer jungen Schriftstellerin mit großem Einfühlungsvermögen, einer exakten Beobachtungsgabe und einem Gespür für das, was in Menschen vorgeht, hinter ihren Masken, die sie ihnen Stück für Stück vom Gesicht schält. Ein Buch, dessen Gewicht vielleicht erst in einigen Jahren wirklich sichtbar werden wird, weil es in vielerlei Hinsicht seiner Zeit voraus ist.

Solange Bied-Charreton
Enjoy
aus dem Französischen von Annemarie Berger unter Mitarbeit von Neil Belakhdar
Sujet Verlag
2015 · 260 Seiten · 10,50 Euro
ISBN:
978-3-944201-10-8

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