Als würde man alles sehr ernst nehmen, nur sich selbst nicht
Anatomie also. Im Zimmer. Das lässt an weiße Kittel denken, an Skalpelle, an Schnitte und einen Einblick in das, was normalerweise unter der schützenden Haut verborgen liegt. Die Suche nach etwas, das vielleicht Ursache war für Krankheit und Tod. Gerade weil es sich nicht zu erkennen gab, bevor es zu spät war.
In diese Richtung lenkt der Titel meinen Blick, meine Erwartung vermutlich auch. Die Gedichte, die Daniela Kocmut mit ihrer Übersetzung erstmals auch einem deutschen Publikum zugänglich macht, sind in drei Blöcken angeordnet, die jeweils durch ein Zitat der Dichterin Slavica \avli eingeleitet werden. Die einleitenden Zitate sind der Schlüssel, der die Räume zu den jeweiligen Gedichten öffnet.
Zunächst ist das der relative weite Raum, in dem von Verbindungen, Beziehungen und Gedanken die Rede ist, bevor es im zweiten Teil privater und intimer wird, Heimat, Familie und die Wohnung geraten in den Blick. Im letzten Teil bleibt dann nur noch der Schnitt in die Haut, da fließt Blut, man geht sich gegenseitig unter die Haut (exemplarisch im titelgebenden Gedicht „Anatomie im Zimmer“), die Gefahr Blicke zu tauschen (die zuvor wissenschaftlich exakt berechnet wurden), wird benannt.
Viele Gedichte beginnen mit „ich erinnere mich“. Vergangenheit spielt eine große Rolle, aber nicht als etwas Nostalgisches, sondern um zu zeigen, wie trügerisch eine nur scheinbar gemeinsame Vergangenheit ist, wenn es immer wieder das Subjektive jeder Erinnerung ist, das allgemeingültiger ist als alle verbrieften Fakten. Weil jegliche Verständigung sehr schnell an Grenzen gerät, wobei diese Grenzen geschlechtlicher Natur sein können (Der Duft nach Papier), oder kulturell bedingt (Die Poesie meines Landes). Und Hrastelj macht diese Grenzen fühlbar. Ihre Gedichte lassen den Leser begreifen, dass es nicht die Gedanken sind, die uns verbinden, sondern ein paar sehr einfache Beobachtungen.
Warum man die Mutter nicht mag
zwar gibt es einige argumente
sie zu mögen
doch es bleibt höchst irritierend:
sie geht einkaufen und zufällig weißt du das nicht
und suchst sie und suchst sie im ganzen haus
so wie wir damals gesucht haben wo sich vater erhängt hatam genausten haben wir
die räume mit rohren durchsucht
sein bruder hat sich an der heizung erhängt
der schwager an der wasserleitung
ein halbes jahr haben wir ihn gesucht und nicht gefundendu suchst sie aber du suchst keine leiche
sondern ein warmes wesen mit falten und sanften händen
die manchmal noch streicheln
und du findest sie nicht
nur ein riesiges kaltes haus
gähnend leere zimmer
die dich verschlingen wollen
in die du hineinfällst und wo du dich verlierst
voller angst bis sie zurückkommt
Bei allen Gedichten, in allen Räumen, die Stanka Hrastelj anatomisch erschließt, geht es auf durchaus unterschiedliche Weisen immer wieder im engeren (häufig auch körperlichen) Sinn um das Verborgene.
Was bleibt ist der rührende, von vornherein zum Scheitern verurteilte, Versuch, die Qualen im Inneren, all diese Verzweiflungsherde und unerhörten Unzulänglichkeiten, die unter der glatten, frisch gestrichenen, gut geschminkten Oberfläche verborgen sind, mit Hilfe von Wissenschaft, Technik, irgendeiner Art von Nüchternheit zu handhaben, d.h. zu verdrängen, klein zu halten, wenn man sie schon nicht vernichten kann. Aber vielleicht geht es auch nur darum, wie die neuen Medien Einzug halten in die alten Fragen, Probleme und Unlösbarkeiten.
„die szenen wiederholen sich es wiederholen sich die morgen
an denen wir uns ansehen
so unsicher und verschreckt dass wir immer und immer wieder
auf die neblige straße mit den autos rennen
dass wir barfuß in die untiefen mit seeigeln stürzen
die keramikstacheln bohren sich tief ein und brechen ab
die sohlen werden die hauptplatinen des schmerzes
ein großer trost ist, dass der zweifel an der realität des augenblicks
und des menschen
leer ist denn das fleisch ist der beweis für die existenz wenn es um
die wunden eitert
es schmerzt sogar im schlaf und den weniger wirklichen
01010100 01100101 01101001 01101100 01100101 01101110
00100000 01100100 011000101 01110010 0010000 01010111
01100101 01101100 01110100“
Das ist kein Trost. Aber wer erwartet schon Trost von der Anatomie?
Auch sprachlich orientiert sich der Ton an medizinisch sauberen Schnitten. Es ist ein harter Takt, den Hrastelj in ihren Gedichten anschlägt. Sie lässt keine Oberfläche gelten, sie kratzt die glatten Fassaden so lange an, bis zum Vorschein kommt, was darunter liegt. Und manchmal kann das trotz allem sogar etwas Tröstliches haben.
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