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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Draußen vor der Endlichkeit

Hamburg

Und noch ein Lyrikdebüt, und wieder erschienen beim Berliner Verlagshaus J. Frank, und wieder ein Debüt, das man zwangsläufig mehrmals lesen muss, wie schon Martin Piekars „Bastard Echo“: Mit „Everest“ setzt der 1984 in Kassel geborene und längst im Lyrikmeltingpot lebende Stephan Reich eine kraftvolle Vers-Wegmarke. Dass er bereits zweimal, 2010 und 2013, Finalist beim Open Mike war, erschließt sich schon nach wenigen Seiten: Diese Gedichte kann man nicht bloß lesen, sondern man muss sie laut lesen. Reich  zelebriert den Klang, alles greift atmosphärisch dicht sprachlich und klanglich ineinander, jedes Wort, jeder Buchstabe scheint die logische Konsequenz des vorangegangenen zu sein, auch da, wo er englische Zitate in die deutschen Poeme integriert ist alles folgerichtig.

tote
salzen den berg, die kalten, harten
fakten, körper

als wegposten, stumm
im schleifen des winds
schneit die haut von den knochen

soll heißen: willkommen

– das nur als kleiner Ausschnitt aus dem Titelgedicht, das, ebenso wie einige andere, mit dem Schriftbild ebenso spielt wie mit den sehr bewusst gesetzten Zeilenbrüchen; aber über das Spiel mit der Sprache hinaus stimmt auch inhaltlich alles, es ergeben sich klare, vielschichtige Bilder einer kalten Endlichkeit. Sicher ist das Lyrische Ich als Suchender in einer nicht zu verstehenden, bloß zu fühlenden Welt ein alter Hut. Aber die Perspektiven, die es hier einnimmt, diese Tasten mit den Fingerkuppen im Klang der Bedeutungen, ist originell, ideenreich, durchdacht und auf ganzer Linie überzeugend – was sonst eher selten vorkommt.

Auf die Spitze treibt Reich das im Kapitel „Metamorphosen“. Junge Lyrik gilt oft als zu kompliziert und unverständlich, erscheint manchem Leser vielleicht wie das Kauderwelsch, das der Google Translator gerne mal ausspuckt, sobald man ihm einen Satz hinwirft, der grammatikalisch minimal über Grundschulniveau liegt. Reich greift das auf und bricht es ironisch, indem er seine Basistexte via Google Translate durch sieben Sprachen hindurch ins Deutsche Rückübersetzt, sie bearbeitet und dann das Procedere erneut durchführt. Lyrik im digitalen Zeitalter? Es gibt ja längst Programme, mit denen man sich anhand bestimmter Schlagworte Blümchenlyrik errechnen lassen kann. Reichs Idee aber überlistet die Maschine, indem er sie etwas Sinniges in etwas völlig Unsinniges transformieren lässt und dem Ergebnis durch eigenen Input wieder eine Form gibt, die inhaltlich und sprachlich stimmig ist und zugleich noch augenzwinkernd mit dem allseitigen Technikpessimismus jongliert. Ein Beispiel:

apple sagt: kopieren sie ihre krankheit. überwachen sie
den fortschritt. füllen sie gott manuell.

weiter: gleich gehören sie dazu. ändern sie
ihren mund & spinnen sie ehrlichkeiten.

auf der suche nach etwas
werden sie lebendig sein

Getragen wird all das von einem Bewusstsein der Endlichkeit, Menschen sind bloß Klangfiguren in Moll; alles, auch der Klang, ist flüchtig, der Tod immer da und nah, überall Reflexionen von Krankenhausfluren, Kanülen, Beatmungsmaschinen, hinter jedem Aufblühen blüht ein Karzinom:

& wir tranken die septische luft
der felder, nahmen das letzte licht von den dingen

& in der reuse unserer rippen
zappelte noch etwas, schwappte,
ließ dann nach.

Stephan Reich
Everest
Illustrationen: Ludmilla Bartscht
Verlagshaus J. Frank
2014 · 13,90 Euro
ISBN:
978-3-940249-88-3

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