Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Mit Herz und Herd

Ein Buch über die tröstliche Wirkung von warmem Milchreis, die Kunst, ein Linsengericht zu kochen, und die Unwägbarkeiten der Liebe.
Hamburg

Ein Paradox: Je mehr Leute auf Fix & Fertiggerichte und Convenience -Zubereitung setzen, je mehr der Außer-Haus-Verzehr zunimmt und der heimische Herd kalt bleibt, um so mehr haben Koch-Shows im Fernsehen Konjunktur. Von subalternen C-Promis bis hin zu biederen Landfrauen lässt sich heute jeder in die Töpfe gucken, TV-Köche bleiben nicht bei ihren Leisten, sondern frequentieren auch das Abend-Entertainment und die Buchregale  – es scheint, als klaffen das multimedial befeuerte kulinarische Ideal und schnöde Fast-Food-Realität immer weiter auseinander. Muss es da noch ein weiteres Buch rund um die Herdplatte sein?

Bei Stevan Paul liegt der Fall etwas anders. Zwar ist auch er gelernter Koch, arbeitet als Foodblogger, kulinarischer Agenturberater und Foodstylist immer dicht an der Cooking Front, aber im Grunde ist er ein Erzähler. „Schlaraffenland“ hat er seinen Band betitelt, nach dem Elysium, der Paradiesvorstellung früherer Hungerleider. In den 15 Geschichten fliegen den Protagonisten zwar keine gebratenen Tauben in den Mund, doch oft genug fliegt ihnen das Leben um die Ohren. Die Komposition dieses – übrigens wunderschön aufgemachten und ausgestatteten! – Bandes ist so simpel wie einleuchtend. In jeder Erzählung wird ein Gericht zubereitet, dessen Zutaten und Rezeptur sich auf einer Doppelseite an die Geschichte anschließen. Das eigentlich Schöne an diesem Band – neben Optik und Haptik – ist aber, dass Stevan Paul nicht den Fehler begeht, die Herdplatte zum  Nabel der Welt zu erklären. Die vorgestellten Gerichte sind zwar gleichsam die Scharniere der Erzählungen, sie sind Tröster, Aphrodisiakum, Resümee, letzte Rettung, Urlaubs-Highlight. Vor allem aber führen sie Menschen zusammen. Und um die geht es Stevan Paul speziell.  Die kleinen Fehler, die seltsamen Schnurren und Gewohnheiten sind es, die der Erzähler besonders an ihnen schätzt: Ob nun ein Restaurantkritiker den Fehler begeht, sich auf der Solidaritätsliste einer Tierschutz-Initiative einzutragen, ein hinterlistiger Oberkellner sich seinen gastronomischen Alltag mit subversiven Streichen aufheitert oder ein alter routinierter Koch einem nassforschen Bewerber mal kurz zeigt, wo Bartel den Most oder besser die Linsen holt, man merkt: Stevan Paul mag seine Figuren, er geht großherzig mit ihnen um und diese Großzügigkeit überträgt sich auf den Leser: Man kann nicht umhin, diese Figuren zu lieben. Zum Beispiel den vereinsamten Witwer, der im Eisfach seines fast leeren Kühlschranks  eine tiefgefrorene Erbsensuppe findet, die seine Frau noch eigenhändig zubereitet hat. Oder den Helden der wohl schönsten Erzählung „Mit Herrn Wilhelm durch die Nacht“, einen Koch, den es auf einer nächtlichen Sauftour durch St. Pauli zusammen mit seinem Kumpel leicht aus der Kurve trägt, der dann aber auf wundersame Weise den Sonnenaufgang auf einem Balkon erleben darf und dabei noch köstliche Blätterteig-Ziegenkäseschnitten von seinem Azubi serviert bekommt.

Die Sprache von Stevan Paul hat Rhythmus und Melodie, es ist überhaupt das Pendeln zwischen sprachlicher Melodie und inhaltlicher Melancholie, die einen Gutteil der Faszination dieser Geschichten ausmacht. Die Dialoge haben Verve und Tempo, Stevan Paul hat sie der Wirklichkeit abgelauscht und setzt sie präzise ein. Und wenn ein Plot mal überzeichnet ist wie der vom Foodblogger Niklas Bär und seinem ökohysterischen Nachbarn Robert Dörrhoff, fängt die souveräne Sprache des Autors diese kleinen Schwächen auf. Selbst wenn man nicht unmittelbar die Lust bekommt, die schönen Rezepte dieses Buches selbst nachzukochen: Was „Schlaraffenland“ so unwiderstehlich macht, ist die Fähigkeit von Stevan Paul, Herdplatten mit Herzenswärme zu erhitzen.

Stevan Paul
Schlaraffenland
Ein Buch über die tröstliche Wirkung von warmem Milchreis, die Kunst, ein Linsengericht zu kochen und die Unwägbarkeiten der Liebe
mairisch
2012 · 192 Seiten · 18,90 Euro
ISBN:
978-3-938539248

Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge