Die Chance, die letzte?
In Deutschland liegt die Scheidungsrate derzeit bei knapp unter 50%. In den USA dürfte es nicht viel anders aussehen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Paar sich scheiden lässt? Etwa 1:2. Laut Stewart O'Nan liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Paar eine Reise zum Ort seiner Hochzeitsreise erneut unternimmt bei 1:9. Wie stehen die Chancen, alles nochmal zu retten, wenn es schon den Bach runter ist? Diese Frage stellen sich Art und Marion Fowler in O'Nans neuem Roman „Die Chance“ (Rowohlt), als sie im Bus nach Niagara Falls fahren, übers Valentinswochenende. Dorthin, wo sie ihre Flitterwochen verbracht haben. Jung, frisch verheiratet, verliebt, lebenslustig, voller Hoffnungen, hoffnungslos naiv waren sie damals.
Und heute, über zwanzig Jahre später, mit Anfang fünfzig? Sie haben zwei Kinder in die Welt gesetzt und ein Haus gekauft. Sie war Pflegefachkraft, er Versicherungsmakler. Nun sind sie beide ihren Job los. Die Kosten für das Haus und zahlreiche andere Verbindlichkeiten, die sie eingingen, weil sie daran glaubten, dass alles immer weitergehen würde, haben sie in die Schulden getrieben. Sie stehen kurz vor der Privatinsolvenz – und hinter der Scheidung. Zwar sind die Seitensprünge schon Jahrzehnte her, aber verziehen sind sie nicht, zumindest nicht wirklich. Das Vertrauen, die Finanzen, die Hoffnungen, alles im Arsch. Wie das halt so ist.
Es soll ein allerletztes gemeinsames Wochenende werden. Marion gibt sich Mühe, denn sie wünscht sich einen einvernehmlichen Abschluss. Art gibt sich Mühe, denn er hat einen Ring in der Tasche und plant einen Antrag. Marion fragt sich, wie sie es den Kindern sagen sollen. Art auch. Und dann ist da noch der andere Plan, der die beiden zu einem verschworenen Team macht, einer zwangsläufigen Schicksalsgemeinschaft: Sie haben ihr letztes Geld dabei, in bar. Einige tausend Dollar. Art hat sich wochenlang mit Glücksspiel, genauer: mit europäischem Roulette befasst. Und er glaubt, eine idiotensichere Taktik zu haben. Sie wollen alles setzen. Sie wollen gewinnen, um ihre Schulden tilgen zu können, um den GAU in letzter Sekunde abzuwenden, denn das Haus wollte bislang niemand kaufen.
Man darf, man muss – wieder und wieder und wieder – Stephen King dafür danken, dass er diesen großartigen amerikanischen Erzähler entdeckt und ihn vor rund zwanzig Jahren mit seinem Debüt „Engel im Schnee“ bei einem Verlag untergebracht hat, der ihm auf Anhieb die nötige Aufmerksamkeit bescherte. Seitdem hat sich Stewart O'Nan zu einer gewichtigen Stimme seiner Generation entwickelt, der mit Einfühlungsvermögen und Humor die Untiefen des Zwischenmenschlichen erkundet.
Art und Marion sind einfache Leute, die, teils aufgrund eigener Unzulänglichkeiten, teils aufgrund der Unberechenbarkeit des Lebens, vor den Trümmern ihrer Träume stehen und, anstatt zu verzweifeln, versuchen, das Beste daraus zu machen. Man kennt sie, sie sind vertraut. Jeder hat eines oder mehrere solcher Paare in seinem Freundes- und Bekanntenkreis, und man kennt diese Art der Kommunikation, die magischer Weise funktioniert, obwohl oder gerade weil beide andauernd aneinander vorbei reden.
Mit „Die Chance“ ist Stewart O'Nan ein galgenhumoriges und lebenskluges Buch gelungen über Entscheidungen, Chancen und vertane Chancen und die Frage, wie man damit umgeht.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben