Tanz auf der Rasierklinge
Berlin, 1994. Techno boomt, bundesweit. Die Labelbetreiber Ferdi und Raimund gehen auf große Magical Mystery-Tour. Im Gepäck eine Handvoll DJs aus dem Roster von BummBumm Records und dem dazugehörigen Sublabel Kratzbombe sowie zwei Meerschweinchen namens Lolek und Bolek. Mittendrin im streitlustigen Haufen: Karl Schmidt. Er hat Raimund, den er noch aus seiner Zeit im Westberlin vor dem Mauerfall kennt, ein paar Tage zuvor in einer Eisdiele in Hamburg-Altona getroffen und sich nach einigem Hin und Her davon überzeugen lassen, Fahrer und Faktotum zu spielen, für eine ganze Deutschlandtour mit einer Handvoll Stationen. Und so findet sich Karl, den nur noch seine alten, irgendwann aber auch seine neuen Bekannten nur Charlie nennen, inmitten eines zugekoksten, bekifften und besoffenen Klüngels, der nur schwer zu bändigen ist, wieder. Das Prekäre daran: Karl Schmidt hatte noch fünf Jahre zuvor einen geistigen Zusammenbruch erlitten, bei dem Drogen eine nicht unwesentliche Rolle spielten. Mit dem Roadtrip beginnt auch ein Tanz auf der Rasierklinge, der sich in Schmidts Psyche abspielt.
Schmidt, der ehemalige Künstler, der das Angebot weniger wegen den versprochenen 4000 Mark annimmt, sondern viel eher dem drögen Sucht-WG-Alltag und seinem Haushilfsmeisterjob in einem Kinderheim entfliehen möchte, ist nicht nur für Ferdi und Raimund ein alter Bekannter: Er ist auch, oder war es zumindest, der beste Freund von Frankie Lehmann. Genau, Herr Lehmann. Der traurig-apathischer Held jenes Romans, der Sven Regener 2001 zum literarischen Durchbruch verhalf und dem Christian Ulmen im gleichnamigen Kinofilm von 2003 den passenden neurotischen Anstrich verlieh. Hier wie dort war Karl Schmidt sein emotionaler Fixpunkt, an den er sich wenden konnte und der ihm väterlich stets dazu riet, doch mehr Elektrolyte zu sich zu nehmen – um dann selbst der mauen Pointe zum Opfer zu fallen, dass bei ihm akuter Elektrolytemangel festgestellt wird.
Dass ausgerechnet Sven Regener, dessen musikalischer Output mit seiner Band Element Of Crime sich auf authentizitätsschwangeren Rock mit brütenden Lyrics erstreckt, der im letzten Jahr mit einem gekränkten Telefonanruf im Radio zum Thema Urheberrecht durchblicken ließ, dass er die Alles-für-Alle-Mentalität, die gerade der zumeist samplebasierten elektronischen Tanzmusik immer inhärent war, mit Techno auseinandersetzt, verwundert. Dass sich sein Roman zudem noch gegen eine Vielzahl von dokumentarischen Büchern zum Techno-Boom der Endachtziger und Neunziger Jahre positionieren muss, kommt erschwerend hinzu. Und außerdem: Ist das nicht ein bisschen zu nostalgisch?
Tatsächlich ist es jedoch nicht Regener, der durch die Träne im Knopfloch auf das verflossene goldene Zeitalter zurückschaut, sondern vor allem Ferdi und Raimund. Beide plagt der Gedanke, über das ganze Geld und den überdimensionierten Hype die Ideale der Bewegung schwinden zu sehen. Magical Mystery soll Abhilfe schaffen, den Spirit vergangener Tage ins Hier und Jetzt transportieren und natürlich genug Erzählstoff für kommende Generationen liefern. Den Mythos ausgraben und weiterreichen also. Dass die Magical Mystery-Tour, die sich das gleichnamige Projekt der Beatles zum Vorbild und Namensgeber erkoren hat, schon damals in die Hose ging, wird oft gesagt – und immer ignoriert. Ob das überambitionierte Projekt, das kreuz und quer durch die Bundesrepublik führt, jedoch wirklich solche Wellen schlägt, davon berichtet der Roman nicht. Dass aber allein der Gig in Schrankhusen-Borstel vor einer Gruppe Rollstuhlfahrern (merke: das mit dem Humor klappt bei Regener immer noch nicht so recht) eher mau ausfällt, darüber tröstet auch die exzessive Abschlusssause auf dem Springtime-Festival in Essen nicht hinweg.
Und sowieso: peace, love, unity und respect, wie das Credo der britischen Rave-Bewegung lautete – Fehlanzeige. Die Magical Mystery-Tour fördert bei allen Beteiligten vielmehr das Gegenteil zu Tage. Ferdi und Raimund verkrachen sich, Anja ist genervt, weil ihr Kollaborationssong immer als »Der Song mit Flöte« bezeichnet wird, obwohl sie darauf doch Altsaxofon spielt und die beiden Hosti Bros Holger und Basti bekleckern sich mit vielem, nicht aber gerade Ruhm. Um die Truppe zusammenzuhalten, muss Karl Schmidt wahre Sisyphusarbeit leisten, den viel zu kleinen Bus reparieren, sich um die Meerschweinchen kümmern, gestohlene Elchmaskottchen wieder an ihre rechtmäßigen Besitzer übergeben und andauernd schlichten, vermitteln und zur Vernunft aufrufen. Er hat es nicht leicht mit den Techno-Hippies, die unfähig scheinen, Termine einzuhalten oder sich für länger als eine halbe Stunde zu vertragen. Noch schwieriger aber ist es für ihn, selbst standhaft zu bleiben – die Verlockung in Form von Alkohol und allerlei Drogen ist groß. Um nicht »kontaktstoned«, wie er es nennt, zu werden, muss er sich mehr als einmal aus der Schusslinie ziehen. Das klappt nicht immer, denn auch er muss mal einspringen, wenn einer der Hosti Bros zu betrunken zum Auflegen ist und seine Anwesenheit auf den zügellosen Parties unumgänglich wird. Und er droht selbst in ruhigen Momenten zu kollabieren.
Magical Mysteryerzählt nicht nur von einem heillos romantischen Unterfangen, sondern auch einem Menschen, für den das bisschen Ausnahmezustand die Welt bedeutet. Während sein Umfeld den Schaum längst vergangener Tage neu aufkocht, steht Karl Schmidt vor einer Entscheidung, die sein zukünftiges Leben nachhaltig verändern wird: Geht er zurück in die triste Enge der Hamburger Drogen-WG oder doch nach Berlin, um neu anzufangen? Über 500 Seiten zieht sich dieser Entscheidungsprozess hin und immer wieder scheint es, als wäre Karl Schmidt dieser Last nicht gewachsen. Ewig ziehen sich seine Monologe hin, die einfachsten Vorgänge beschreibt er in Bandwurmsätzen, die häufig eine ganze Seite einnehmen.
Ein wenig übertreibt es Regener schon mit der Psychologisierung seines Protagonisten, dessen Detailbesessenheit und Neurosen. Aber das ist andererseits auch das beste Heilmittel gegen den verklärten Romantizismus der Rave-Hippies. Karl Schmidts (buchstäbliche) Nüchternheit garantiert nicht nur, dass auf der Magical Mystery-Tour alles zumindest halbwegs reibungslos abläuft, sie geht auch der oberflächlichen Hysterie auf den Grund und findet dort Tristesse, aber auch eine rührende Menschlichkeit. Die Sprödigkeit mit der Regeners unverklärter Blick die Euphorie der Neunziger Jahre demontiert, sie weiß zu überzeugen. Und darüber hinaus noch bestens zu unterhalten.
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