Lass uns flügge werden
Ein Krokus stößt an die Stuckaturen der Schneedecke. Aus feuchtem Torf ganz jung spross er, ganz eigen, und jetzt hat sich doch herausgestellt, dass der abgestorbene Faulbaum in der Toilettenzelle nebenan dasselbe Markenkokain schnupft wie unser Jüngling. Jesses! Die Piratenpartei hat eine Entsprechung gefunden und dies, was uns im Jungen Deutschland besonders freut, in der literarischen Welt und, was uns noch mehr freut, im Land aller Aufbrüche, Amerika. Tao Lin ist der erfolgreichste Vertreter der alternative literature oder alt lit, einer Bewegung, die seit einigen Jahren in Brooklyn und den Brooklyns aller amerikanischen Städte an den Klingeln unserer coolen Haushalte zieht. Man beruft sich auf Bret Easton Ellis, aber auch die Beatniks, teilweise David Foster Wallace oder sogar Dada, jedenfalls alles was, diffus gefasst, „jung“, „kritisch“, „exzessiv“, „experimentell“ dem Mainstream entgegensteht. Das Medium ist der Cyperspace (ja!); es wird online veröffentlicht und online diskutiert über Leute, die online veröffentlichen und online diskutieren. Lose ist damit die Parallele zu den Piraten gegeben. Desweiteren scheint die alt lit ganz wie die Piratenpartei äußerst ephemer zu sein: In den letzten Wochen hat sich die Szene angesichts sexueller Übergriffe von etablierteren an weniger etablierten Figuren auf Facebook selbst zerfleischt. Tao Lin allerdings, von Vorwürfen auch nicht verschont, hatte schon davor den Absprung in den Mainstream, die Kritikerspalten der New York Times und des Guardian, geschafft, und findet sich nun auch in deutscher Übersetzung.
Trotz besagtem Absprung ist Tao Lin dank seinem bald schon in Vellum zu bindenden Klassiker Shoplifting from American Apparel (Melville House 2009) die führende Gipsbüste der Szene, und man kann an ihm einiges festmachen, was leider genereller gilt. Zunächst aber zu den guten Gaben dieser Ernte: Es gibt zwei ästhetische Stränge, die sich durch die alt lit ziehen. Einerseits eine durchaus interessante, wenn auch nur ungefähr originelle Technik, sich aus diversen Chats, Videospielen usw. ready-made-Material für die Literatur zu holen, Bild- und Wortcollagen daraus zu fabrizieren, oft schnell hingeworfen und bewusst mit momentanem Wert. Daraus entstehen dann, im Idealfall, Pokemonlyrik und Gmailchatepik, die in Onlineanthologien oder winzigen Druckauflagen zirkulieren. Andererseits prägt ein gewisser Tonfall die alt lit, ein Ton der Nüchternheit und brüchigen Transparenz, der vage an Hemingway erinnert. Teilweise überschneiden sich die beiden Stränge und die eher experimentelle Technik geht mit dem nüchternen Tonfall einher. Meist aber, insbesondere in den weiter verbreiteten Texten, ist alles, was vom ersten Strang bleibt, dass Personen beschrieben werden, die auf Gmail chatten und hip in der alt-lit-Szene die Sofas durchsitzen. Ansonsten bemüht man sich darum, einen möglichst trockenen Prosaton zu erzeugen. Dafür ist Tao Lins Shoplifting das beste Beispiel, und deshalb ist er so wichtig für die Szene.
Nur, warum sollte uns die Szene interessieren? In den letzten Jahren sind der deutschen Literatur einige implizite oder explizite programmatische Richtungsänderungen widerfahren, kraus, kreuz und quer und inkompatibel. Clemens Setz reckt das Panier der amerikanischen Postmoderne von Gaddis über Pynchon und Gass zu Wallace, Felicitas Hoppe hat den ironisch-feinen Klassizismus reanimiert, Daniel Kehlmann möchte wieder Stories plotten, Helene Hegemann gab vor, auf einem Drogentripp à la Burroughs über die ästhetischen Abgründe zu balancieren, bevor sie dann doch ins Fangnetz stürzte, und Martin Mosebach verfasst neue große Romane fürs Bürgertum. All diese programmatischen Versuche leben einsam in ihren Eremitagen und wirken zudem stark wie Statthalter verblichener Traditionen auf Erden. Es wäre doch schön, wenn wir uns, wie die herrlichen Romantiker, in einer Schar von allen verklebten Eierschalen lösten und gemeinsam hoch, neu, lebendig aus unseren Nestern flögen! Davon könnte die alt lit künden.
Der Krokus, das Küken, es fehlt nur noch das neugeborene Kalb, schau, da wankt es: Wie gut ist die alt lit? Nun, der Weg zum allgemeinen Urteil führt über Einzelurteile. Shoplifting ist eine ziemlich gute Novelle, aber auch nicht mehr als eine auszuarbeitende Grundlage für Größeres. Wie gut also ist dieses Größere, der Roman Taipei, in dem sich Tao Lin zum „interessantesten Prosastilisten seiner Generation“ (Ellis) aufgeschwungen hat? Mit einem Wort, Taipei ist miserabel. Wie es sich für einen alt-lit-Roman gehört, handelt er von einem Jungcoolen, der sehr viel chattet und sehr viel jettet, viele Girlfriends hat und sehr auf Drogen und biologische Guacamole steht. Daraus könnte man doch einiges machen! Aber was sich vor dem Leser hinzieht ist ein Schwulst, dem nicht einmal Demian beikommt, ein ästhetischer Albtraum an unironischem pseudo-poetischem Unsinn und Banalwust, dass man nicht weiß, ob der Roman schon angefangen hat oder noch der Trailer zur nächsten nigerianischen Nollywoodperle läuft.
Es gilt die Maxime, dass man in jedem Buch zuerst den letzten Satz lesen soll. Bitte sehr:
They hugged a little, near the center of the room, then he turned around and moved toward the kitchen – dimly aware of the existence of other places, on Earth, where he could go – and was surprised when he heard himself, looking at his feet stepping into black sandals, say that he felt „grateful to be alive“ (s. 248).
Paolo Coelho winkt freudig auf der anderen Straßenseite. Wenn alternative Literatur in Coelho mündet, dann muss sie irgendwo lecken. Doch dazu später mehr. Erst koste man noch einmal von Tao Lins kosmischem Poesiequark:
An earnest assembling of the backup life he’d sketched and constructed the blueprints and substructures for (during the average of six weeks per year, spread throughout his life, that he’d been in Taiwan) would begin, at some point, after which, months or years later, one morning, he would sense the independent organization of a second itinerant consciousness – lured here by the new unoccupied structures – toward which he’d begin sending the data of his sensory perception. The antlered, splashing, water-treading land animal of his first consciousness would sink to some lower region, in the lake of himself, where he would sometimes descend in sleep and experience its disintegrating particles – and furred pieces, brushing past – in dreams, as it disappeared into the pattern of the nearest functioning system (ss. 15-16).
Wir können mindestens zwei Lecks diagnostizieren. Einerseits scheitert der Anspruch poetischer Originalität aufs kläglichste in einem trivial wabernden Gefühlsausdruck, dem so wenig kritische Schärfe unterliegt wie der Programmauswahl von Classic FM. Andererseits erweist sich das Projekt narrativer Originalität als Rückkehr zum Naturalismus, nur ohne das sprachliche Biegen und Brechen Arno Holz’ und ohne die soziale Dringlichkeit Zolas, vielmehr einem bequemlichen Naturalismus der Selbstdarstellung einer weinerlichen Kannabiswelt. Über die Umwege des Gmailchat sind wir wieder im Wohnzimmer der Bourgeoisie angelangt, ach jeder Investmentbanker von Credit Suisse snifft doch Kokain, Kerzenlicht, Parkettboden, ein wenig auf Drogen und atmosphärische Musik, und dann machen wir Liebe auf der Ottomane. Nichts ist hier „experimentell“, „kritisch“, „exzessiv“, diese Ästhetik ist schläfrig und reaktionär.
Man könnte vermuten, dass sich vom Klassiker Tao Lin nur bedingt auf das Reich seiner Szene schließen lässt. Denn war nicht von einer das Internet collagierenden ready-made-Technik die Rede? Teilweise ist das bestimmt nicht falsch. Screenshots einer Facebookkonversation zwischen Fakeprofilen mit Schnurrbart finden sich gegenwärtig noch nicht anthologisiert unter Großvaters Hausbüchern. Aber die Technik ist nur das eine, wesentlicher ist, was man damit anfängt. Indes wird damit meistens dasselbe angefangen wie chez Tao Lin, ein endlos wehleidiger Gefühligkeitsnaturalismus (ach, ich bin so cool mit meinem Gurkenwrap). Dadurch ist die alt lit innerhalb von gerade einmal fünf Jahren zu ihrer eigenen Parodie geworden, zum Inbegriff einer Bewegung, die gerne bahnbrechend wäre, aber anders als ihre Vorbilder, Tristan Tzara, W.S. Burroughs, versagt, unter anderem weil sie ästhetisch nicht genug wagt, aber noch mehr, weil sie sich ihre eigene Spießigkeit nicht eingesteht. Der Zirkel der alt lit ist zu eng, ihr Sprachbild zu einfach. Ein wenig mehr klassische Intellektualität täte ihr not, und so sind wir doch wieder an den Eierschalen kleben geblieben. Martin Mosebach müsste häufiger in Death-Metal-Konzerte gehen und der alt-lit-Boy mehr Proust lesen und Dante: The real shit always happens elsewhere.
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