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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Milieuporno reloaded

Thomas Melle versucht sich in seinem zweiten Roman an einem Naturalismus-Update, das so naturalistisch nicht ist.
Hamburg

Das Berlin dieser Tage. Denise sitzt an der Kasse eines Supermarkt, kümmert sich um ihre aufmerksamkeitsdefizitäre Tochter, trifft sich mit Freundinnen zum »Schlampenbashing«-Fernsehabend oder checkt in einer ruhigen Minute erst Facebook, dann ihren Kontostand. Wenn sie sehen muss, dass das Geld immer noch nicht drauf ist, geht sie manchmal auf diese andere Website. Um sich das Video mit ihr selbst in der Hauptrolle noch mal anzuschauen und einen reißerischen Kommentar zu hinterlassen. Vielleicht glaubt sie, so ginge es etwas schneller, wären die 3000 Euro zügiger auf ihrem Konto zu finden.  Die, die sie sich damit verdient hat, vor der Kamera Sex zu haben. Wofür sie sich schämt, wenn sie an der Supermarktkasse sitzt, begleitet von der ständigen Panik, es könne sie jemand erkennen.

Anton erkennt Denise nicht, wenn er bei ihr seine kargen Einkäufe bezahlt. Er hat lange keine Internetpornos mehr geguckt, er war lange nicht mehr im Internet. Viel kann er sich nicht leisten, eigentlich gar nichts. Denn eigentlich hat Anton, der früher ein echter Hoffnungsträger war und sein Jura-Studium hochdekoriert abschloss, nichts außer Schulden. Die verfolgen ihn wie der säuerliche Geruch nach Schweiß, der in seinen Klamotten nistet. Er ist nicht mehr der Anton, der er einmal war. Nicht so erfolgreich, leider. Nicht mehr so manisch, zum Glück. Denn er nachdem er alles, aber auch wirklich alles auf den Kopf gehauen hat – ohne so wirklich zu wissen, wieso und wozu – ist er nun am Boden angekommen. Versucht, sich gegen die Justiz zu wehren. Seine Schulden zu bezahlen, für die er sich schämt; für die 3000 Euro, die zwischen ihm und einem einigermaßen geregelten Leben oder zumindest einem Neuanfang stehen.

Anton findet Denise »auf prollige Weise sehr hübsch« und auch Denise fühlt sich merkwürdige Art zu dem Gestrauchelten hingezogen. Er ist nicht wie der besoffene One-Night-Stand aus der Großraumdisco, der keinen mehr hochbekommt. Nicht wie die alte Affäre, die sich nur in Selbstmitleid über ihre eigene Beziehungsunfähigkeit suhlen möchte. Nicht wie der Vater der Tochter, der Denise zwar mit Speed versorgt, aber meistens selbst zu viel davon intus hat. Anton hingegen findet einen Menschen, der ihn allem Zögern zum Trotz an sich heranlässt. Anders als die Frau des alten Freundes, der ihn jetzt vor Gericht verteidigt – die leugnet schlicht, dass Anton und sie sich jemals näher gekommen sind.

Denise, die immer mehr aus ihrem Leben machen wollte und Anton, der sein altes zurück haben will, kommen sich derweil näher. Nicht unbedingt wie Liebende, sondern wie sich eben Zwei nahe kommen, wenn sie einander am Boden finden und beschließen, sich wieder hochzuarbeiten. Nur, dass sie es dann doch nicht gemeinsam tun – und es letztlich fragwürdig bleibt, ob sie es überhaupt schaffen. Denise denkt drüber nach, ob sie nicht Anton das Geld geben könnte – aber tut sie es zum Schluss? Und Anton, der versucht, sich als Straßensänger durchzuschlagern und -schlagen, wird er sich nicht doch wieder selbst im Weg stehen?

Mit 3000 Euro legt Thomas Melle eine Art Fortsetzung für sein 2011 erschienenen Debüt-Roman Sickster vor. Antons tragische Geschichte ist der lange, unbequeme Kater, der unweigerlich auf die Exzesse der Sickster-Protagonisten folgen musste. Es ist aber nur eine Art Fortsetzung, weil der Ton trockener geworden ist. Die kantige Wortgewandtheit Melles passt sich ihren Verhältnissen an, schraubt die Referenzdichte herunter und guckt mehr ins Innenleben ihrer Figuren. Diese sind ganz normale Menschen eigentlich, nur eben gescheiterte. An sich, an ihren Mitmenschen und dem System.

Melle versucht sich an einem Naturalismus-Update, gelingen will sie ihm jedoch nicht. Nicht allein, weil 3000 Euro, diesem Milieuporno reloaded, auf einer dünnen und in ihrem Determinismus absolut vorhersehbaren Story balanciert, sondern weil es dieser an Dinglich- und Dringlichkeit fehlt. Wo sich Melle nicht bei den gängigen Klischees über ein vermeintliches Proletariat bedient, da wirken seine Figuren und ihre Lebensumstände gut recherchiert, mehr jedoch nicht. Seine Empathie mit Denise wirkt konstruiert, so wohl sie auch gemeint ist. Kein Wunder, dass Anton viel differenzierter wirkt als die junge Mutter: Seine Realität ist eine, die Melle selbst sehr viel vertrauter sein sollte, die er in ähnlicher Form bereits literarisch aufgearbeitet hat.

Der Versuch, die moralische Schlagkraft der naturalistischen Narrative in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zu verpflanzen, krankt nicht nur an den historisch-sozialen Differenzen, die Melle zu leichtsinnig zu überbrücken versucht. Sondern vor allem daran, dass ihm es nicht gelingt, das von ihm gewählte Milieu naturalistisch zum Leben zu erwecken. 3000 Euro ist formelhaft und höchstens rührselig – nicht aber schärft es den Blick auf vorhandene soziale Probleme.

Thomas Melle
3000 Euro
Rowohlt
2014 · 208 Seiten · 18,95 Euro
ISBN:
978-3-87134-777-1

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