Demokratische Wälder
Thorsten Krämers "The Democratic Forest" ist wieder so ein Gedichtband, der als Umsetzung eines klar bestimmten Konzepts funktioniert (werden die mehr in letzter Zeit?). In diesem Fall ist das Konzept das folgende: Gedichte zu einzelnen Fotos aus William Egglestons Konvolut gleichen Namens, denen die Fotos allerdings nicht beigestellt werden; ein Reisebildband ohne Bilder, ein Coffeetable-Book im unaufgeregten Taschenbuchformat.
Die Gedichte sind kurz, zwischen zwei und vierzehn Zeilen; dreizeilige Strophen überwiegen; die Nüchternheit der Form entspricht dem, was mir Wikipedia über den Fotografen Eggleston erzählt:
Er wandte sich früh schlichten, nicht bildwürdig geltenden Motiven zu, vergleichbar mit dem Maler Edward Hopper.
In Krämers Vorwort, "Auf der Durchreise", das übrigens ebenfalls nach Art der Coffeetable-Books nicht ganz vorne im Band steht, sondern hinter das erste der Gedichte gesetzt ist, erläutert er:
In meinen Gedichten zu ausgewählten Fotografien aus The Democratic Forest versuche ich, in Eggleston einen reisenden Stellvertreter, oder besser: einen stellvertretenden Reisenden zu sehen. Ich mache die Orte seiner Fotografien zu Orten meiner Gedichte.
Wir haben es also nicht im engeren Sinn mit "Gedichten über Bilder" zu tun, auch nicht mit Gedichten, die Egglestons Reisen durch v.a. die Vereinigten Staaten zum Gegenstand haben, sondern mit solchen Gedichten, die sich die Schauplätze dieser Bilder bzw. dieser Reise zu eigen machen und an ihnen ihr eigenes Ding tun - soweit sie diese Schauplätze über die Bilder hinaus überhaupt kennen können.
Manche dieser Gebilde erscheinen mir über Gebühr vereinfacht, oder sagen wir: Haben, gemessen an der ernsten=knappen Form, eine zu platte Pointe (wogegen sich natürlich einwenden lässt, das gehört zum Programm, Egglestons Fotomotive sind ja auch gerade nicht die Sehenswürdigkeiten des jeweiligen Landstrichs, der jeweiligen Stadt, sondern die unspektakulären Schuppen daneben). Zum Beispiel dieses allererste, das, wie gesagt noch vor dem Vorwort stehend, das Reiseprogramm abbilden zu sollen scheint:
MEMPHIS, AT THE TRAVEL AGENT'S
Die Reise beginnt mit den Fingerspitzen: Sie
ertasten den Weg um den Globus. Inverses Relief
der Erfahrung, die Kugelform der Prädestination.
Andere der Gedichte gehen, unserer Lesart des Vorworts zum Trotz, eben doch auf die Art der Darstellung bei Eggleston ein, entwickeln aber darüber hinaus (und parallel dazu) Ausblicke auf Stories und Reflexionen, die nur zum Teil innerhalb des uns präsentierten Bildausschnitts sichtbar sind:
DALLAS
Das Gleichgewicht der Reize sorgt für
Stillstand, das Bremslicht vor der Nase, ein Auf-
fahrunfall wäre es geworden, beinahe.
Die Nähe
zwischen Ambition und Ambivalenz, dein innerer
Sondierungsmonolog im Angesicht der Nachrückenden: when push
comes to shove, dein vollverglastes Wertesystem.
Es fällt auch auf, dass zwar bei Weitem die meisten, aber doch nicht alle dieser Gedichte an Schauplätzen in Texas, Dixie, Washington spielen. Daneben gibt es noch mehrere, deren genauere Bestimmung UNTITLED lautet, ein paar OIL RIGS (bzw. OIL RIGS, TENNESSEE u.ä.) und ein paar, die auf BERLIN blicken. Und dass da nicht "Berlin, Oregon" oder so gemeint ist, sondern Berlin, Deutschland, das erschließt sich uns schon vor jedem Lesen der Texte daraus, dass zwischen den BERLIN-Gedichten auch eines von BAD ISCHL, AUSTRIA und eines von einer HABSBURG VILLA berichtet.
Wir halten an dieser Stelle kurz inne und überlegen, was uns das sagt: Dass in einem Gedichtband über den "Demokratischen Wald", den ein Farbfotopionier abgebildet hat, als er auf Reisen war, just Berlin und Ischl vorkommen ... Haben die antiamerikanischen Kryptorechten kryptorecht ("We all live in america, america is wunderbar?") ... Ach nein. Man erinnert sich grade noch rechtzeitig einer Stelle des Vorworts: Egglestons Bildband umfasst
Tausende von Fotografien
Dass in Krämers Auswahl fast nur noch US-Motive vorkommen, ist dann unter "Konzentration aufs Wesentliche" zu verbuchen; Berlin und Ischl und die Habsburg Villa unter "Freundlichkeit zu deutschsprachigen Lesern".
Überhaupt, was ist ein "Demokratischer Wald"? - Ist das der grimmsche Märchenwald, Schauplatz der Geschichten, aller Geschichten, dem aber die feudalen Zumutungen und "naturgegebenen" Machtgefälle ausgetrieben wurden? Oder steht in diesem Titel die Behauptung, die genannten Zumutungen wären nicht und nicht loszuwerden, es bliebe, was da demokratisiert worden sei, eben doch ein Wald, mit oder ohne König und Prinzessin?
Und dann auch: Wo findet die Demokratisierung statt? In der Wirklichkeit? Oder bloß im Blick, dem alle gesehenen Elemente zunächst gleichwertig sind und der Wahrnehmungshierarchien erst im Nachhinein errichtet? (Es ist dieser letztere Prozess, bei dessen wiederholter Nachbildung Krämers Gedichte glänzen) Das eine wird nicht ohne das andere zu haben sein...
Zuletzt der Hinweis auf den rätselhaftesten Text des Buchs: Das Bild, auf das er sich bezieht, ist UNTITLED, wird also vom geneigten Leser nicht so leicht aufzufinden / abzugleichen sein; der Text beschränkt sich auf eine zweizeilige Anrede in heute zeigenössischer Gamer-Sprache, und wir wüssten wirklich gar zu gern, welche Landschaft, welchen Ort Eggleston da abfotografiert hat (wir können natürlich annehmen, das das Bild für heutige Augen vage computergeneriert aussehen muß, und dass es so etwas wie eine klare "Leserichtung" aufweisen wird...):
UNTITLED
Du hast nur eine Frage: Welcher
bug hat dich hier spawnen lassen?
(für Seth)
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Kommentare
Coffeetable-Books
Nur zur Info, weil das aus dem Band selbst tatsächlich nicht hervorgeht: Das Buch ist dieser ersten Auswahl von Fotos, die 1988 erschienen ist, nachgebaut. Daher die Reihenfolge, daher auch, wie in der Rezension bereits bemerkt, die ersten beiden Gedichte vor dem Vorwort:
http://harveybenge.blogspot.de/2015/09/william-eggleston-democratic-fore...
über Gebühr vereinfacht
Über Gebühr vereinfacht scheint mir vor allem diese dreiste Besprechung (hier im entkernten Sinne von: Wir haben den Titel mal erwähnt, halten uns aber nicht lang bei den Texten auf). Die (falsche) Kategorisierung als Coffeetable-Book ist verletzend und ehrenrührig und bedürfte einer näheren Erläuterung. Unterstellt Stefan Schmitzer Thorsten Krämer, seine Gedichte seien oberflächlich und platt? Dann hätte er das anhand mehrerer Beispiele belegen müssen, ein kleines Textsegment von Seite 6 ist argumentativ ungenügend, zumal es deutlich als Motto fungiert. Mehr kann ich im Moment nicht sagen, ich habe das Buch erst seit gestern. Allerdings kenne ich die Auswahl, die einst in der parasitenpresse erschienen ist, und war (und bin) sehr davon angetan. Es ist erfreulich, dass es jetzt wieder etwas von Thorsten Krämer zu lesen gibt, und ich bin zuversichtlich, bald erste Kritiken lesen zu können. Da Kritik unterscheiden heißt - nicht pauschalieren -, zähle ich den obigen Beitrag nicht dazu.
Über Gebühr?
Ich muss mich darüber wundern, dass Sie schreiben, ich würde dem Buch eine
angedeihen lassen. Abesehen davon, dass ich nicht einsehe, was an ihr ehrenrührig sein sollte, wie Sie schreiben - falsch wäre sie tatsächlich. Aber in der KRitik ist die Rede von einem
Und damit ist ja wohl klar ein Paradoxon beschrieben (von dem, so meine These, über die wir gerne diskutieren können, dieser Band lebt), also mitnichten pauschal eine simple Katagorisierung vorgenommen.
Ich finde den hohen Standard, an dem Sie Kritiken offenbar messen – unterscheiden, nicht pauschalieren – nützlich und klug; frage mich dann aber doch, ob, was Sie mir als Desiderat nahelegen, nicht doch eher der Textsorte "universitäre Gedichtanalyse" angehören würde (oder aber, auch vorstellbar, eine "Karte im Maßstab 1:1" darstellen würde).
Zu sagen, dass mir einige der Texte (beispielsweise der erste) platt vorgekommen sind, und einige andere (beispielsweise der ebenfalls zitierte Dallas-Text) durchaus nicht, stellt jedenfalls meiner bescheidenen Meinung nach keine Pauschalisierung dar.
Freundliche Grüsse
Stefan Schmitzer
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