Der Literaturversteher
Das Gespräch über Literatur ist schon lange aus dem Alltag in Spezialforen verlagert worden, ins Feuilleton, in Talkshows, in Blogs oder in die Wissenschaft. Kaum jemand spricht über seine Lektüren und Vorliegen mit anderen, auch wenn der Lektürebedarf immer noch hoch ist. Vielleicht liegt das daran, dass das Lesen im Unterschied zum Kino oder zur Musik eigentlich immer ein persönliches und sehr privates Vergnügen ist. Wer liest, zieht sich zurück, auch im allergrößten Trubel, und wer mit seiner Lektüre zu einem Ende gekommen ist, wird sich erst einmal damit beschäftigen wollen, als seine nächste Umgebung mit seinen Eindrücken zu behelligen.
Dafür gibt es immerhin andere Foren und Plattformen: Wer mehr wissen will und seine Lektüren einbetten, der frequentiert Online-Foren oder Blogs, liest Rezensionen oder Porträts – was auch immer noch ein sehr vereinzeltes Vorgehen ist.
Wem das nicht reicht, der besucht VHS-Kurse oder andere, in denen er mit Gleichgesinnten über Literatur sprechen kann und nicht den falschen Moment oder einen leseunfreudigen Liebsten riskieren muss. Sogar für die, die dem singulären Lesen entkommen wollen, gibt es Angebote, Lesungen, Performances und anderes mehr, mit denen aus der individuellen Lektüre eine öffentliche Veranstaltung wird – was eben überhaupt nicht dasselbe ist wie ein Gespräch.
Ein Autor und Lehrender wie Tim Parks wird das Monologisieren gewöhnt sein, und sich trotzdem dessen gewiss sein können, dass seine Stimme gehört wird. Dazu ist der in Italien lebende und lehrende Parks als Autor renommiert genug. Freilich, und dies weiß er in seinen nun erschienenen Miszellen trefflich zu beschreiben, wird er in jedem der Länder, in der seine Bücher erscheinen, anders gehört. Denn er ist in jedem ein anderer Autor.
Miszellen? Tim Parks hat unter dem treffenden Titel „Where I’m reading from“ eine Reihe von kleinen Texten veröffentlicht, die sich mit dem Objekt der leserlichen Begierde beschäftigen, dem Buch, dem literarischen Text und dem Lesen. Dass das Buch im Deutschen unter dem Titel „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ erschienen ist insofern also eine kleine Ablenkung, da ja das Sprechen immer nur in eine Richtung geht. Wieso also wir?
Nun ist Tim Parks kein Dummerjan, als Übersetzer und Autor renommiert und zudem mit dem gesegnet, was man britischen Humor nennen darf, auch wenn er schon Jahrzehnte in Italien lebt. Dieses himmlische Land scheint ihm das Lachen nicht ausgetrieben zu haben. Und den klugen Gedanken.
Ob man zum Beispiel ein Buch zuende lesen muss, ist für leidenschaftliche Leser keine nebensächliche Frage, die beiläufig abgehandelt werden kann. Muss man schlechte Bücher zuende lesen? Darf ich über ein Buch nur urteilen, wenn ich es vollständig wahrgenommen habe? Mitnichten, mein Parks, und belesen, wie er ist, kann dafür viele Beispiele anbringen – was allerdings niemanden der Verpflichtung enthebt, sich dazu sein eigenes Urteil zu bilden. Ein Buch jedenfalls entnervt zu besprechen, ohne über den Anfang hinauszukommen, ist nicht leicht und macht angreifbar. Aber das muss man als Leser und erst recht als professioneller eben aushalten.
Und wie ist das mit dem Buch und den neuen E-Books? Darf man das? Kann man das? Verliert man was? Ja, man verliert was, aber man hat schon – und da geht’s mit ihm ein bisschen durch – was verloren, als man von der Schriftrolle zum gebundenen Buch gewechselt ist. Denn das ist wohl kein Argument, wenngleich es einfach am Ende egal ist. Das E-Book, auch wenn es derzeit schwächelt, wie man lesen kann, hat sich durchgesetzt, nicht zuletzt deshalb, weil es entsetzlich entlastet. Nicht jeder setzt seinen Ehrgeiz daran, um seine Bücher ein Haus zu bauen oder eins dafür zu kaufen. Nicht jeder mag sich mit dem Gedanken abgeben, ob er für seine Sammlung Regale bauen soll, in denen die Bücher ohne Leiter erreichbar sind.
Man muss Parks Nobelpreis-Schelte nicht teilen. Klar, dass kein Mensch auch einen nur halbwegs vollständigen Überblick über die Literatur eines Sprachgebiets, geschweige denn über die Weltliteratur haben kann – Goethe hin oder her. Und dass ein Komitee aus lauter Schweden, von denen man keine beliebige Sprachkompetenz erwarten kann und erst recht keinen genauen Blick auf alle Literaturen, jedes Jahr einen Preisträger auswählt, ja auswählen muss, ist auch kein rechtes Zuckerschlecken, oder wahlweise aleatorisch. Kein Wunder dass es dauernd Männer und Europäer trifft. Und dennoch, will man auf den Preis verzichten, nur weil er behämmert ist? Auch wieder nicht.
Oder die Sache mit den dämlichen Fragen bei Lesungen. Nun geht Parks davon aus, dass bei Lesungen Autoren nicht aus ihrem Werk lesen – was allerdings in Deutschland sehr beliebt ist. Unabhängig davon beschäftigen sich die meisten Fragen aus dem Publikum mit sehr Privatem, wofür Parks jedoch großes Verständnis hat. Versuchten doch die Zuhörer, ihre teils sehr persönlichen Erfahrungen mit ihren Lektüren mit deren Autor zu vertiefen. Sie wollen mehr von dem, was sie aus der Lektüre kennen gelernt haben. Und wer wills ihnen verdenken?
Verdenken kann man Parks eben auch nicht, dass er sich mit der deutschen Verfilmung eines seiner Roman „Cleaver“ (2006) unter dem Titel „Stille“ (2013) nicht recht anfreunden kann, auch wenn er sieht, dass der Film seine eigenen Schwerpunkte setzen muss. Dass dies zu einer anderen Geschichte in einer anderen Kultur führt, dagegen hat er nichts – und doch sehr viel, weil aus seiner Geschichte etwas anderes geworden ist, das er so nie hätte schreiben können (wie jede Geschichte ja immer nur so von jemandem hat geschrieben werden können).
Parks wird in diesem kleinen Text, mit dem er den Band abschließt, hin und hergerissen zwischen seinen Erkenntnissen – die eben nicht so einfach zusammen zu führen sind. Schon der Wechsel vom Buch zum Film macht alles anders, erst recht der Wechsel der Kultur und der Schauplätze.
Wie weit ein solches Unbehagen an der Kultur gehen kann, zeigen Parks Überlegungen zur Übersetzung – gerade zu deren stillschweigenden Unterstellungen – oder zum Lektorat eines seiner Texte, der für das amerikanische Publikum eingerichtet werden soll. Unabhängig davon, dass er als britische Autor ein anderes Vokabular verwendet als ein Amerikaner, schleichen sich ins Lektorat noch viel weiter gehende Änderungen ein, die einen völlig anderen Text generieren – und einen völlig anderen Autor.
Gerade weil das so ist, wären Verlag und Autor gut beraten gewesen, die kulturellen Anglizismen zu streichen oder kenntlicher zu machen. Geld zu geben für Zitate, weil Autorenrechte berührt sein sollen – das mag im angelsächsischen Raum geboten sein, aber im deutschsprachigen Raum ist das anders geregelt. Das ist hinreichend egal, soweit daran nicht grundsätzliche Überlegungen geknüpft sind. Sie sind es aber hier.
Was freilich an der Vergnüglichkeit dieser Lektüren keinen Abbruch tut. Literaturwissenschaftler können grottig über Literatur schreiben (Parks bringt ein paar Beispiele), dieser Tim Parks hingegen weiß darüber angenehm, klug und kundig zu plaudern. Kurzweilig hat man solche Plaudereien einmal genannt, und auch wenn das Gespräch über Literatur mittlerweile anderswo als im bürgerlichen Salon geführt wird, daran teilzunehmen ist eine ungemein hübsche Sache. Und das sollte genügen. Auch – und hier widerspreche ich Parks entschieden – wenn Geschichten ansonsten gebraucht werden.
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