Das Weißblech der Straßenschilder
In dem wunderbaren Film Anatevka aus dem Jahr 1971 gibt es eine Szene in der Tevje, der arme Milchmann und Vater von fünf Töchtern dem Zuschauer erklärt, was seine kleine jüdische Gemeinde zusammenhält: Tradition.
And how do we keep our balance? That I can tell you in one word: tradition! (…)
You may ask, how did this tradition get started? I’ll tell you: I don’t know. But it`s a tradition. And because of our traditions, everyone of us knows who he is and what God expects him to do.
Hier klingt in der kurzen aber von Chuzpe sprühenden Zusammenfassung schon alles Wichtige an, das Tradition konstituiert: Tradition ist in erster Linie identitätsstiftend und somit Garant für den historischen Zusammenhang und gegenwärtigen Zusammenhalt einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Ebenfalls ermöglicht einem die Kenntnis der Tradition, sich selbst in Welt und Geschichte zu verorten und aus seinem gegenwärtigen Sprech- und Sehepunkt heraus die mögliche eigene Aufgabe der Stunde zu erkennen, die immer zeitgebunden und somit sowohl jetzt dringlich und notwendig, wie später aber auch schon passé und überholt sein wird. Man selbst kann in dieser Perlenschnur immer nur ein fortführendes Glied sein, das das Alte hinterfragend eben jenes bewahrt und weiterschreibt, bis diese Aufgabe der nächsten Generation zufällt.
Tobias Roths Essay Tradition, in der kleinen und feinen neuen Reihe des Verlagshauses J. Frank Edition poeticon erschienen, setzt sich mit eben jener faszinierenden Eigendynamik im Umgang mit literarischer Tradition auseinander, der zwischen Vergessen und Verleugnen, rückwärtsgewandter Verklärung bis hin zu sinnlosem Epigonentum changierend, doch immerfort lebendig etwas neu gebiert und fortschreibt, in dem alles schon Dagewesene immer mitgegeben bleibt und doch immer neu zur Sprache kommt. Somit kann es einerseits zugleich tatsächlich nichts Neues unter der Sonne geben, wie es schon im Buch Kohelet heißt, und zugleich vollzieht sich ausschließlich Niedagewesenes.
Als Bild für diese Hypothese entwirft Roth eine Bergwerksmetapher: Der Berg der Tradition ist angereichert durch alle vorherigen Stimmen und Bücher, die sich als Sediment, Schicht um Schicht in ihm und auch unsere Sprache eingelagert haben.
Jede Lektüre treibt neue Stollen hinein. Ein Bergwerk aus Zeit und Papier, das niemals schweigt. Dort unten herrschen Dunkel und ständige Bewegung. Der Stein, den man abbaut, verwandelt sich schon dadurch, dass er aus seinem Zusammenhang gerissen ist; der Stein, den man bearbeitet, wird etwas völlig anderes, obwohl sich nicht sagen lässt, dass er neu ist – nicht in seinem Material und schon gar nicht in den Implikationen, die das Material zu bedenken gibt.
Ein weiteres Thema, das der Essay umkreist, ist die alte Frage: Schreiben die Alten uns oder wir sie? Sind wir fest und unumstößlich konstituiert von den Schriften und dem Wissen der Vorangegangenen, das sie uns mitgegeben haben, oder formen nicht vielmehr wir die Vergangenheit selbst, in dem wir immer wieder neu bewerten, aussortieren, was nicht mehr passt und wiederentdecken, was sich nun geeignet für uns vereinnahmen lässt. Hier bringt der Autor das schöne Beispiel der antiken Skulpturen, die je nach Bedarf mal klassisch weiß, mal bunt bemalt erinnert werden, obwohl jeder weiß, dass die Figuren schon immer bunt waren. Das Faszinierende an dieser Frage ist tatsächlich das immer lebendige Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die sich unablässig gegenseitig neu schreiben und bedingen. Jeder Bezug zur Vergangenheit verändert diese Vergangenheit, entwirft und baut; jede Gegenwart formt sich die Vorzeit nach ihrem Bilde.
So ist Tradition ein fortwährender Prozess der Kanonisierung, der Hinterfragung und Dekonstruktion dieser Kanonisierung und erneuten Kanonisierung dieser Dekonstruktion.
Selbst wer glaubt das Rad gerade neu erfunden zu haben, wie es nach Roth viele Gegenwartslyriker tun, steht auch damit schon in einer langen Tradition mit Traditionsleugnern aus allen Zeiten.
Geradezu allergisch reagiert der Autor daher auf den Genie-Gedanken. Der Vorstellung, einer hätte und könnte überhaupt groß, einmalig, voraussetzungslos handeln. Kein Großer kann nach Roth aus dem luftleeren Raum heraus schaffen. Keiner schreibt allein. Das Genie zeichnet aus, das es souverän auf dem Erbe steht, das es sich zuvor aber angeeignet hat.
Aber auch die Aneignung der Literaturgeschichte ist für Roth kein Mittel zum Zweck bloßer Bildungshuberei, die Haltung, die er fordert ist Demut:
Der liebevolle Respekt vor dem, was uns noch unbekannt, aber dennoch Teil unserer Welt ist, und die brennende Neugier, es uns einzuverleiben. (…) Tradition ist eine Öffnung des Horizonts, davon sollten wir uns durch den nationalistisch- industriellen Stumpfsinn des 19. Jahrhunderts nicht ablenken lassen.
Wer die Tradition in der er steht nicht kennt, steht in der Gegenwart, wie ein Neandertaler. Oder wie es im Essay heißt:
Je weniger ich weiß, worauf ich mich beziehe, umso weniger weiß ich, was ich überhaupt sage.
Dabei übersieht Roth, bei und wegen aller Begeisterung für die Altvorderen eine weitere Gefahr: Je mehr nur ich weiß, worauf ich mich beziehe, desto weniger versteht mich überhaupt noch wer. Der Autor, selbst Lyriker, Kritiker und Renaissanceforscher ist mitunter schwer verständlich. Dies liegt zum einem am manierierten, an Jean Paul geschulten, Schreibstil, aber auch an Zitat- und Anekdotenbezügen zur Antike und Renaissance, die auch dem gebildeten Lesepublikum nicht gleich zugänglich sind. Zudem kommt in einigen Fällen auch die Sprachbarriere hinzu, da nicht vorausgesetzt werden kann, dass alle des Italienischen und des Lateinischen mächtig sind. Hier hätte man sich gewünscht, was auch so zum Fortbestand der Schätze der Vergangenheit unablässig ist: eine adäquate und zeitgemäße Vermittlung an den uneingeweihten Leser. Sprich, z.B. einen Apparat mit Fußnoten, oder zumindest Übersetzungen.
Zugute halten muss man Roth aber seine ansteckende Wissbegierde und Begeisterungsfähigkeit. Hinreißend und ganz auf der Höhe ist Roth in seinen Ausführungen zur Bienenmetaphorik, die schon seit alters her als Sinnbild für den Dichter und die Dichtkunst steht. In der Bienenmetapher verdichtet sich, was Roth schon in der Bergwerksmetapher für seine Poetologie und seinen Traditionsbegriff als tragend beschrieb:
Tausenderlei Blumen werden zu einem Honig verdaut, wiedergekäut; die Biene hat ein eigenes Organ dafür, das so rätselhaft ist wie die Bewegunsgsrichtungen der Sammelnden.
Der adäquate Umgang mit Tradition kann für Roth immer nur ein lebendiger sein: Begegnung und Gespräch, was sonst. Das tote Weißblech der Straßenschilder führt zur Petrifikation und zum Absterben dieses Gesprächs. Und das Produkt dieses Gesprächs, der Honig, zeichnet sich u.a. auch dadurch aus, dass er ein unverderbliches Lebensmittel ist.
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