Der poetische Buchhalter
Schon im Prolog seines neuen Romans „Und jetzt du, Orlando!“ offenbart sich Ulf Erdmann Ziegler als Meister des überraschenden Blicks. Die prosaische Tätigkeit, eine Straße entlangzugehen, wird bereits im nächsten Satz symbolisch überhöht. „Die Sonnenseite birgt das ganze Drama“, heißt es da. Aber: „Der auf der Schattenseite geht, kann die Dinge viel besser erkennen.“
Es ist Orlando, der die Schattenseite wählt. Zunächst erscheint der Titelheld als typischer „Sidekick“ – eine Figur, deren Rolle im Wesentlichen darin besteht, dem eigentlichen Helden im richtigen Moment die richtigen Fragen zu stellen. Und doch ahnt man nach diesem bedeutungsschwangeren Anfang, dass es Orlando sein wird, den am Ende ein tragisches Schicksal ereilt.
Der Ich-Erzähler, der im Licht wandelt und darum die Dinge nicht ganz so klar erkennt wie Orlando, ist ein Exil-Schwabe namens Oliver Hoelzle, der sich in den 1980er Jahren in London angesiedelt hat. Er ist zum Buchhalter eines englandweit operierenden Filmverleihs aufgestiegen, und wird in der Firma ironisch-anerkennend „der preußische General des Vertriebs“ genannt. Doch der studierte BWLer interessiert sich nicht nur für die Zahlen hinter den Filmen, sondern vor allem für das Geschehen auf der Leinwand. Mehr noch, er ist ein ausgemachter Ästhet, der sich von bewegten wie unbewegten Bildern nur allzu gern inspirieren, verführen, ja regelrecht einsaugen lässt. Als Ausgleich zum Firmenalltag durchstreift Oliver Museen und entwickelt dabei – wen wundert’s – ein Faible für Kunsthistorikerinnen. Die Kombination von Kunst und Frauen lässt ihn bisweilen in poetisches Schwelgen und Schwärmen verfallen, das je nach Blickwinkel nervig oder drollig daherkommen kann. „Wenn sie sich zum Bild drehte, sah es so aus, als würde sie da hineingehen, und wenn sie sich wieder umdrehte, stellte ich mir vor, würde sie dem Bild entsteigen“, sinniert er bei einer Museumsführung. Endlich mal ein Mann, dazu noch ein derart bodenständiger, der keine Angst hat vor seinen Emotionen, vor dem eigenen Überwältigtsein – sei es angesichts eines Gemäldes oder einer Frau. Das ist selten in der Gegenwartsliteratur und darum sehr begrüßenswert. Passagenweise jedoch mutiert Oliver zum pubertierenden Nerd, der seine romantischen Sehnsüchte in endlose kunstwissenschaftliche Assoziationsketten verpackt. Warum zum Beispiel muss er bei einem Ausflug nach Brighton gleich mit Delacroix’ und Courbets Deutung des Meeres daherkommen, und dann auch noch das „Bild einer Seelenlandschaft in Cinemascope“ beschwören?
Das Leben an der Seite „seiner“ Kunsthistorikerin, die er alsbald heiratet, gestaltet sich überwiegend prosaisch: Während Barbara mit Gender-Themen in der Renaissancekunst von Konferenz zu Konferenz tourt, hütet Oliver die gemeinsame Tochter daheim in Finsbury Park. Doch auch hier lauert die Mehrfachcodierung, die bereits Zieglers Vorgängerwerke prägte. Als Barbara sich dem akademisch noch weitgehend unerschlossenen Thema des Weinens zuwendet, ist dies zugleich eine düstere Vorahnung auf kommendes Leid. Und auch der unheimliche weiße Berg, den Oliver und Orlando auf ihren Streifzügen durch East London entdecken, ist natürlich nicht nur ein Schrottplatz für ausrangierte Kühlschränke, sondern: „Bei Tageslicht und aus der Nähe besehen war das ein verrottendes Menetekel.“ Kein Stück Lebenswirklichkeit ohne bildungsbürgerlichen Echoraum.
Warum sich Oliver mit dem jüngeren Kollegen von der Schwesternfirma, anfreundet, kann er sich zunächst selbst nicht recht erklären. Klar ist, dass ihre ausgedehnten Spaziergängen und Pubcrawls nicht nur dem Ich-Erzähler schier unerschöpfliche Möglichkeiten bieten, seinen überraschenden Blick schweifen zu lassen, sondern auch, dass nach und nach eine tiefere Verbindung zwischen den beiden so unterschiedlichen Männern entsteht. Orlando ist ein idealer Zuhörer, der klug Olivers Seelenlage er- und zusammenfasst. Über ihn selbst erfährt man zunächst nur, dass er schwarz ist, gebildet, akzentfrei Deutsch spricht und einen ähnlichen Ästhetizismus wie Oliver kultiviert.
Erst allmählich enthüllt Orlando Fragmente seiner Familiengeschichte – die Herkunft der Mutter aus einer jüdischen Wiener Familie, das Aufwachsen in einer Londoner Hippie-Kommune, die Frage, wer von den vielen Männern, die das Matratzenlager mit der Mutter teilten, sein Vater gewesen sein könnte. Während Oliver detailreich sowohl über seine Ehefrau als auch über seine Affäre berichtet, bleibt Orlandos Liebesleben im Dunkeln. Einmal wird angedeutet, dass Orlando schwul ist – die Auslassung mag also auch den Berührungsängsten des Ich-Erzählers geschuldet sein.
Gegen Ende des Romans gerät Orlando in Schwierigkeiten, und seine Familiengeschichte – genauer gesagt: sein Erbe – gewinnt noch einmal an Bedeutung. Ziegler schlägt im letzten Kapitel einen ungewohnt geschäftsmäßigen Ton an – es geht um eine geplante Fusionierung, Firmenanteile und Verkaufsrechte. Nicht-BWLer geraten möglicherweise ein paar Seiten lang ins Schleudern. Dann jedoch reißt der Autor das Ruder herum und stellt wieder seine Figuren in den Mittelpunkt. Orlando steht am Abgrund; und Oliver wird vor eine Entscheidung Shakespeare’schen Ausmaßes gestellt. Eine nostalgische Liebeserklärung an das gute alte Kino liefert das Finale gleich mit.
Auch wenn „Und jetzt du, Orlando!“ bisweilen überorchestriert erscheint, ist es Ziegler wieder einmal gelungen, mittels zweier schillernder und zugleich sympathisch „normaler“ Figuren die Helden eines großen Dramas zu erschaffen.
Ist es Zufall, dass der poetisch-melancholische Londonroman über die Freundschaft zwischen zwei ungleichen Suchenden an Gertrud Leuteneggers „Panischer Frühling“ erinnert? Vielleicht eignet sich diese Stadt, in der Alt und Neu dermaßen heftig aufeinanderprallen, einfach besonders gut dazu, einen Fremden zum Freund zu erklären, mit ihm im Jetzt zu flanieren und dabei in Vergangenem zu schwelgen.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben